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Sport: Mit Musik zum Sieg

Vor dem Wettkampf rockt es im Kopfhörer und in der Kabine, zum Weihnachtsfest wird mit der Harfe musiziert. Immer mehr Sportler motivieren sich mit ihren Lieblingsliedern – und ergründen dabei ihre Gefühle

Sie hört nur das Klatschen des Schnees. Dieses rhythmische Knarzen, wenn die schnellen Ski über den Boden zischen. Immer im selben Takt. Eins, zwei, eins, zwei. Nach einer Weile kommt ihr Atem dazu, der im Laufe des Rennens schneller und tiefer wird – bis sie auch ihr Herz laut trommeln hört. Der Herzschlag ist der Bass im Rennorchester der Magdalena Neuner. Alles zusammen ergibt für die junge Biathletin eine feine Symphonie. Ein vielschichtiges Klangwerk, das durch das saubere Klacken der Gewehrschüsse und dem entfernten zarten Aufprall des Geschosses auf der Zielscheibe zu einem komplexen und doch ganz reduzierten Arrangement wird.

Möglich nur deshalb, weil die dreifache Biathlon-Weltmeisterin sich abschottet. Sie fährt mit Ohrenstöpseln. Ihre akustische Wahrnehmung ist auf ein Minimum reduziert. Dann ist sie bei sich. „So kann ich mich besser konzentrieren und werde nicht abgelenkt“, sagt sie. Die 20-Jährige macht das nicht, um völlig geräuschlos auf die Jagd zu gehen. Ganz im Gegenteil. Für sie ist es Musik – und Musik ist wichtig für sie, um zu entspannen, um sich aufzuputschen. Schlicht um Höchstleistung zu bringen. Am liebsten spielt sie selbst, auf ihrer Harfe.

So wie Magdalena Neuner geht es vielen Sportlern. Musik ist ihr legales Dopingmittel, das schnell und zuverlässig wirkt. Es geht wie eine doppelte Dosis Traubenzucker ins Blut, legt sich wie ein Wärmekissen aufs Herz, beruhigt wie Baldriantropfen. „Musik kann über Sieg und Niederlage entscheiden“, sagt auch der Sportpsychologe Michael Draksal. Er ist Mitglied im Olympiateam für die Spiele 2008 in Peking und kümmert sich unter anderem um die psychologische Beratung der deutschen Trampolin-Olympiasiegerin von 2004, Anna Dogonadze. Der Einsatz von Musik als psychologische Stimulans macht für ihn vor, während und nach dem Wettkampf viel Sinn. Vor dem Wettkampf kann Musik vor allem als Einschlafhilfe dienen, um die Nervosität zu bekämpfen. „Da langen schon ein paar Geräusche“, sagt Draksal. Ambient-Musik zum Beispiel. Kurz vor dem Wettkampf beeinflusst Musik den Aktivierungsgrad des Körpers. Sie kann helfen, das optimale Spannungsniveau zu erreichen. „Die richtige Musik gibt es dabei nicht, das muss man ausprobieren“, sagt Draksal. Je nachdem, ob der Körper über- oder unteraktiviert ist. „Sportler merken, ob ihr Bewegungsablauf flüssig ist oder ob sie blockiert sind, entsprechend sollte man seine Musik auswählen“, empfiehlt der Psychologe. Um auf Touren zu kommen, sollte die Musik mindestens 130 Schläge pro Minute haben. Schnelleres Techno, härterer HipHop oder fiese Gitarrenriffs sind da angebracht. Um Nervosität abzubauen, sollte man auf höchstens 60 Schläge pro Minute kommen. Ruhige House-Musik kommt dem Wert sehr nahe.

Ein kurzer Blick in die Welt des Leistungssports zeigt, wie weit verbreitet die Wunderwaffe Musik ist. Vor allem die Digitalisierung der Musik macht es möglich, die Lieblingssongs quasi bis an den Beckenrand, das Wettkampfgerät oder den Anpfiff dabei zu haben. Schwimmstar Michael Phelps hat die dicken Kopfhörer meistens bis kurz vor dem Sprung ins Wasser über seiner Badekappe und bringt sich mit Musik des Rappers Eminem auf die nötige Temperatur, die Deutsche Britta Steffen tut es ihm gleich. Turner Fabian Hambüchen braucht laute Gitarren und Heavy Metal, um am Reck einen festen Griff zu haben. Auch Thierry Henry hat die großen Kopfhörer bis zum Warmlaufen auf den Ohren. Und nicht zuletzt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, die mit der Musik von Xavier Naidoo in der Kabine 2006 den WM-Geist immer wieder aufs Neue phonetisch inhaliert hat. „Wahre Champions nutzen ihre Pausen gut. Da kann Musik eine große Rolle spielen“, sagt Draksal.

Doch Musik birgt auch Gefahren. Gerade im Mannschaftssport, wenn sie laut und für alle hörbar Stimmungen beeinflussen soll. „Jeder ist ja in einer anderen Gefühlslage“, sagt Draksal. Rio Ferdinand weiß davon ein Lied zu singen. Er beschwerte sich vor der WM 2006 über Mannschaftskollege David Beckham, der sich als DJ in der englischen Kabine versuchte. Beckham mochte es lieber sanft und meinte, alle anderen mit James Blunt und ein paar R’n’B-Nummern zu beglücken. Ferdinand aber warf Beckham vor, seine Musik sei noch langweiliger als die Ansprachen des damaligen Nationaltrainers Sven-Göran Eriksson und forderte harten HipHop statt Weichspülmusik.

Dass wäre nicht unbedingt etwas für Magdalena Neuner. Zwar mag sie es auch mal gern rockig. „Im Hotel habe ich mit meiner Zimmerkollegin früher System of a Down gehört, um uns einzuheizen“. Mittlerweile tut es auch Robbie Williams. Für sie ist Musik auf jeden Fall ein wesentliches Element in ihrem Leben. Und manchmal ist sie auch Rettung. Dann nämlich, wenn sich Neuner im hohen Norden von Finnland vorbereitet. Dort wird es nachmittags um drei dunkel, es ist kalt und Magdalena Neuner muss ihre Runden drehen. Dann packt sie ihren MP3-Player aus. „Musik baut auf, man verbindet ein gutes Gefühl damit“, sagt sie. Es ist meist ruhige Musik, die ihr unter die Mütze kommt und ins Ohr säuselt. Coldplay hilft ihr da.

Wahrscheinlich würden etliche Altersgenossinnen unabhängig vom Sport etwas Ähnliches sagen. Trotzdem muss Chris Martin und seine Band auf Biathletinnen eine besondere Anziehungskraft ausstrahlen. Denn auch Neuners Biathlon-Kollegin Verena Bentele mag die britische Band. Vor jedem Rennen hört sie den Coldplay-Song „What If“ – bis kurz vor dem Startschuss. Phonetik spielt bei ihr eine noch größere Rolle als bei Neuner. Denn Bentele ist seit ihrer Geburt blind und kann ihren Sport nur über ein akustisches Signal ausüben – mit Erfolg. Sechs Goldmedaillen hat die 27-Jährige bereits bei verschiedenen Paralympics gewonnen. Und immer war Musik wichtig. „Damit schottet man sich vor dummen Sprüchen und der ganzen Hektik ab“, sagt sie.

Die Studentin lebt in München, in der Nähe vom Olympiastadion. „Ich gehe dort gerne auf Konzerte oder höre am Fenster mit“, sagt Bentele. Wenn mal nicht Coldplay läuft, muss es bei ihr auf jeden Fall rocken. „Ich bin auch auf Partys sehr intolerant, Techno kann ich gar nicht leiden“, sagt sie. Gerade die Jungs würden sich auch bei den sehenden Biathleten gern mit energischer House-Musik aufputschen. Dass sie dagegen eine Aversion hat und deshalb keine Leistungssteigerung zu erwarten ist, kann sie sich leicht erklären. Die Scheibe visiert sie nicht optisch, sondern über einen Piepton an. Er signalisiert ihr, ob sie richtig zielt: Je schriller der Ton, umso näher rückt sie ins Zentrum der Scheibe. „Ich träume schon nachts von diesem Ton“, sagt sie. Techno muss für sie dann wie die Kakophonie tausender Zielpfeiftöne sein. Früher spielte Bentele Geige, aber mittlerweile wäre ihr eine E-Gitarre lieber. Beinahe hätte sie sich mal eine in einem Billigmarkt gekauft.

Live-Melodien sind ein weiterer Baustein in der psychologischen Tiefenwirkung von Musik. John McEnroe hätte ja vor den Spielen auch Walkman hören können. Doch er griff lieber selbst in die Gitarrensaiten und rockt noch heute gerne über die Bühne. Allerdings ist zumindest in diesem speziellen Fall nicht genau nachgewiesen, ob diese Auftritte seinen persönlichen Aktivierungsgrad eher angehoben oder gesenkt haben. Vielleicht hätte er ohne Musik auf dem Tennisplatz vom Schiedsrichter noch viel mehr „Warnings“ ausgesprochen bekommen und noch mehr Schläger zertrümmert.

Das kann Magdalena Neuner nicht passieren. Sie wurde musikalisch völlig anders sozialisiert. Sie ist eigentlich kein Kind des Pop. Volkstümliche Musik ist ihre Heimat. Immerhin ist ihr Vater Dirigent der Musikkapelle Wallgau, ihres Heimatortes. Ihr Bruder spielt ebenfalls in einer Volksmusikkapelle. Nur ihren Cousin hat es in eine Punkband verschlagen. Sie selbst musste erst wie jedes Kind an der Blockflöte ran. Doch schnell merkte sie, dass sie die Harfe mehr reizt. Ihre beruhigenden, mitunter aber auch beschwingten, sanften Töne faszinieren sie. Es ist aber vor allem die Geselligkeit, die Neuner an der Livemusik fasziniert. „Am ersten Weihnachtsfeiertag kommt die ganze Familie bei der Oma zusammen, alle bringen ihre Instrumente mit, und dann musizieren wir den ganzen Nachmittag zusammen – das tut der Seele gut“, erzählt Neuner. Volks- und Blasmusik wird dann durch die Stube geschmettert, die gehe ihr am besten ins Gehör. Auf ihrer Harfe spielt sie aber auch Musicals und moderne Musik. Musik ist für Magdalena Neuner Heimat, Nach-Hause-Kommen.

Das einzige Problem für die Biathletin ist, dass die Harfe ein verdammt unhandliches Instrument ist, das oft neben Ski und Gewehr keinen Platz mehr im Transporter oder Flugzeug findet. Außerdem sind MP3-Files mit Harfenmusik trotz rasend schneller Digitalisierung noch immer ein Seltenheitswert. Deshalb ist Magdalena Neuner etwas mehr aufs Stricken umgestiegen, aber auch dabei läuft meistens das Radio. Auf Wettkampfreisen hat sie dann ihre Stricksachen dabei – und natürlich ihre Ohrstöpsel.

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