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Sport: Mythos mit vier Silben

„Eisern Union“-Rufe in der Zweiten Liga – dafür brauchen die Berliner ein Wunder wie vor 20 Jahren

Berlin - Vor 20 Jahren, genau am 28. Mai 1988, nachmittags, sagte der Fußballgott leise: Okay, ich bin ein Unioner. Es passierte in Karl-Marx-Stadt, das längst wieder Chemnitz heißt: In der allerletzten Minute des letzten Punktspiels der Oberliga-Saison rettete sich der 1. FC Union mit dem einen Siegtor zum 3:2 vor dem Abstieg. Die Berliner Fans strömten auf den Rasen, sie küssten ihn und sie herzten sich, und immer wieder schallte dieser Schlachtruf mit den vier Silben über den Platz, der auch heute den rot-weißen Klub aus Köpenick wie ein akustischer Schatten begleitet, wo immer er kickt: Eisern Union!

Das Fußballwunder von einst flimmert jetzt in der Christburger Straße in Prenzlauer Berg über den Bildschirm in der gemütlichen Dachwohnung von Andreas Schwadten. Der 42-Jährige war damals dabei, wie er eigentlich immer dabei war (und ist), wenn seine Mannschaft irgendwo spielt. Andreas und zwei seiner Freunde sind die Hauptpersonen in einer vor 20 Jahren von der Defa produzierten Langzeitdokumentation über die Fankultur bei Union. „Und freitags in die ,Grüne Hölle’“ heißt sie. „Die ,Grüne Hölle’ war eine Eckkneipe in Prenzlauer Berg, die so grüne Neonröhren an den Fenstern hatte, und da trafen wir uns vor Heim- oder Auswärtsspielen, lachten, tranken, bereiteten uns aufs Ereignis vor“, erzählt Schwadten, der Vorsitzende vom BSV Prenzlauer Berg, einem der zahlreichen Fanklubs, die Union damals wie heute begleiten.

Der Film von Ernst Cantzler hatte es schwer, in die Kinos der DDR zu kommen, denn er war so offen, so ehrlich, so laut und so lauter wie die Unioner nun mal sind. Die Deutschlandfahnen an den Zäunen, die Pauli- und Hertha–Symbole auf den Jeansjacken, die langen Haare, ja selbst die Scharmützel mit den hilflosen Volkspolizisten, ihren Gummiknüppeln und bellenden Hunden und die wunderbaren Gesänge („Union wird wieder Fußballmeister, und wenn nicht – Scheibenkleister!“) sind im Film geblieben, der, mit einigen Änderungen, erst nach 1989 ins Kino kam. Vergangenes Jahr hatte das Filmteam die Idee, die Jungs von damals aufzustöbern. So entstand ein zweites Kapitel: „20 Jahre nach der Hölle“. Und siehe: Alle haben inzwischen Frau, Kind, Auto, vielleicht auch Haus und Hof, aber auf jeden Fall noch immer diesen lebenslangen Virus: Einmal Unioner, immer Unioner.

Andreas Schwadten hat längst kürzere Haare, auch das kleine Bärtchen ist weg, dafür ist der Karosseriebauer von der Stehtribüne im Stadion an der Alten Försterei in den Vip-Bereich geraten – die Marzahner Firma, bei der er arbeitet, ist Union-Sponsor. „Kollegen anderer Firmen, also Geschäftspartner, zumal aus West-Berlin, die wir einladen und die sich unsere Spiele ansehen, sind zu 80 Prozent hin und weg“, sagt er, „nicht selten werden sie Sponsor“. Oder auch zum Mitglied: 5000 hat der 1. FC Union mittlerweile, eine für die Regionalliga sensationelle Zahl.

Wovon sind sie hin und weg? Was ist das Bezaubernde an diesem Verein mit seinen Wurzeln bei den Schlosserjungs von Oberschöneweide? Unions reines Fußballstadion, eine Rarität, die Felix Magath, als er mit Bayern München an der Alten Försterei spielte, als sensationell und nahezu einmalig in der deutschen Fußballkultur empfand. Andreas Schwadten und seine Freunde drücken es so aus: „Wir können Deutscher Meister werden, aber nötig is det nich.“ „Es war früher schon ein Politikum, Unioner zu sein, die Fans sind nicht gerade Sonntagskinder, die Staatsmacht hatte uns auf dem Kieker, wir waren verdächtig, weil wir einfach anders waren.“ „Was mich so begeistert, das ist das Familiäre, das Gemeinschaftsgefühl, dass man schon abends vorher zum Auswärtsspiel fährt, sich die Stadt ansieht, andere Unioner trifft, das hat Wärme.“ „Du gehst zu Union wegen der geilen Atmosphäre und dem ganzen Drumherum, wegen der Gänsehaut bei Nina Hagens Hymne und wenn’s drauf ankommt, fehlt ein Tor. Gefeiert wird aber trotzdem.“

Wie heute nach dem Abpfiff. Da nehmen mehr als 10 000 Abschied vom ollen Stadion, das ab Montag erneuert wird, ein Fan fordert schon, Beethovens „Neunte“ zu spielen, damit die Tränen schneller fließen. Zuvor aber wird es Kampf geben, wie vor 20 Jahren, nur heute geht es um den Aufstieg in die Zweite Liga: wenn Union 4:0 gegen Oberhausen gewinnt und Erfurt gegen Düsseldorf Schützenhilfe leistet (13.30 Uhr, live im RBB). So viele Wenns und Abers! „Aus Versehen könnten sie mal aufsteigen“, sagt Schwadten – das klappt, wenn der Fußballgott wieder ein Unioner ist, wie damals in Karl-Marx-Stadt.

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