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NEBEN Schauplatz: Kreuzberg jubelt für Deutsche und Türken

Türkei gegen Deutschland. In Kreuzberg bedeutet das: wir gegen uns.

Türkei gegen Deutschland. In Kreuzberg bedeutet das: wir gegen uns. Noch nie hat es ein EM-Halbfinale gegeben, bei dem es am Ende zwei Sieger gibt. Im multikulturellen Kreuzberg funktioniert das. „Ich bin für beide“, gibt sich ein Kellner der Vereinsgaststätte von Türkiyemspor Berlin unparteiisch. „Ich wünsche es zwar den Türken, aber es ist egal.“ Ein älterer Mann bringt die Sache auf den Punkt: „Wenn Deutschland gewinnt, gewinnen wir – und wenn die Türkei gewinnt, dann gewinnen wir auch.“ Deshalb sind die Fans kaum auseinander zu halten. Fast alle sind mit türkischen und deutschen Farben geschmückt. Der Comedian Murat Topal trägt sogar eine Trikot-Spezialanfertigung, halb türkisch, halb deutsch. „Aber die Türkei ist auf der Herzensseite.“

Bei Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee dürfte die Verteilung der Flaggen in der Brust genau andersherum gewesen sein. Auch er verfolgte hier das Spiel – gehüllt in ein T-Shirt mit deutsch-türkischem Flaggenherz. Der Grüne Hans-Christian Ströbele war bei der Feier ebenfalls dabei. Die Verantwortlichen von Türkiyemspor haben noch eine Leinwand organisiert, die mitten auf der Admiralsstraße steht. Der Bereich vor dem Klubheim ist zu einer Kreuzberger Fanmeile geworden. Eine Bauchtänzerin heizt die Stimmung an. Rund 400 Zuschauer feiern vor der Leinwand. Im Vereinsheim drängen sich zudem noch mal über 200 größtenteils türkische Fans eng zusammen. Während draußen die deutsche Übertragung läuft, gibt es drinnen deutsches und türkisches Fernsehen. Wenige Sekunden nach dem Anstoß gibt es das erste Mal anerkennenden Applaus. Die Bauchtänzerin ist herein gekommen und läuft spärlich bekleidet durchs Bild.

Das erste Tor für die Türkei wird ohrenbetäubend im Vereinsheim gefeiert. Dafür wird beim Ausgleich draußen heftig gejubelt. „Hast du gesehen? Die Deutschen haben die Türken unterschätzt!“, schreit ein Junge mit rotem Stirnband und Fahnenumhang einem Journalisten ins Ohr. „Schreib das unbedingt morgen!“ Als in der zweiten Hälfte auf der Admiralsstraße die deutsche Fernsehübertragung ausfällt, gibt es auf der Straße Pfiffe, drinnen nur Gelächter: Die türkische Leitung steht nach wie vor. Viele eilen ins Klubheim, um nichts zu verpassen.

Bei Semihs 2:2 rollt der Jubel wie ein Donnergrollen hinaus auf die Straße. Doch Lahm trifft zum 3:2, und als der letzte Freistoß der Türken in Richtung Stadiondach fliegt und die türkischen Hoffnungen abgepfiffen werden, gibt es Applaus für alle, Sieger und Verlierer. Statt zu trauern, feiert nun alles gemeinsam den Einzug ins Finale. Feuerwerkskörper fliegen in den Himmel, bengalische Feuer werden gezündet, Schaulustige bleiben mitten auf den Straßen stehen, der Verkehr bricht zusammen.

Drinnen werden die Stühle hochgestellt. „Schade“, sagt der Kellner niedergeschlagen. Aber sein Kollege hat das türkische Siegerprinzip sofort angewendet und singt lauthals: „Deutschland, Deutschland!“ Jan Mohnhaupt

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