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Niederlage: Herthas kurzes glückliches Leben als Tabellenführer

Berlin verlor in Wolfsburg 1:2. Und nach der ersten Aufregung über den Schiedsrichter erkennt Hertha, dass sie selbst Platz eins allzu leichtfertig herschenkte

Der ewige Experte für echte Kerle und solche, die es werden wollen, heißt Ernest Hemingway. In seiner Lieblingsgeschichte „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“ schildert er den Wendepunkt im Leben eines feigen Jägers, der im Angesicht des Löwen zum Helden wird. Was hätte Hemingway wohl über elf Männer geschrieben, wie sie am Samstag in Wolfsburg zu bewundern waren? Vor einer Woche hatten sie die Könige des Fußballs besiegt, doch schon im Duell mit dem ersten Herausforderer fühlten sie sich betrogen (und wurden in der Tat schwer benachteiligt). So blieben sie Helden für eine Woche, die ihr frisch erobertes Glück zu naiv und zu stürmisch verteidigten. Und dabei vergaßen, dass der nächste Gegner immer der stärkste ist, auch wenn er nicht in der Gestalt eines Löwen daherkommt.

Favre: "Wir hatten die Chance, Wolfsburg müde zu machen"

Das kurze glückliche Leben von Hertha BSC an der Tabellenspitze der Bundesliga erfuhr am Samstag ein unglückliches Ende. Die 1:2-Niederlage beim VfL Wolfsburg traf die Berliner schwer. Eine Woche lang hatte der Boulevard seine Helden auf Schlagzeilen durch die Stadt getragen. Hertha war bemüht, die täglich dicker werdenden Buchstaben aus den Köpfen zu verjagen. Das ist beim Ausflug nach Wolfsburg nicht ganz gelungen. „Wir hatten die Chance, den Gegner im entscheidenden Moment müde zu machen“, sagte Herthas Trainer Lucien Favre. „Aber wir haben diese Chance nicht genutzt.“

Nun ist der VfL Wolfsburg nicht irgendwer, sondern eine mit zweistelligem Millionenaufwand verstärkte Mannschaft, die daheim zuletzt achtmal in Folge gewonnen hat. Es steht also die Dominanz, mit der die Berliner lange das Spiel prägten, für ihre gewachsene Klasse. Auch war der Plot des Spiels zugeschnitten auf eine Fortsetzung der Erfolgsgeschichte. Nach Ciceros Führungstor für Hertha galoppierten die Wolfsburger durch ihre Arena wie von Picadores getroffene Stiere in Hemingways Spätwerk. Angeschlagen, aber wütend. Eine reife Spitzenmannschaft hätte die Führung leicht über die Zeit gebracht. „Da hätten wir mit kalten Kopf weiterspielen müssen“, fand Mittelfeldspieler Pal Dardai, und sein Kollege Maximilian Nicu gab zu: „Je mehr man darüber nachdenkt, desto deutlicher sieht man die eigenen Fehler.“

Zu viele Ballverluste, zu wenig über die Flügel

Lucien Favre geißelte später kompliziertes Spiel, wo einfache Lösungen gefragt waren. „Man muss das Risiko richtig einschätzen und die richtige Lösung finden. Spitzenmannschaften verteidigen oft eine Führung, und keiner sagt später, sie hätten unattraktiv gespielt.“ Der Schweizer Perfektionist listete auf, wo seine Spieler versagt hatten: zu viele Ballverluste, auf den Flügeln in der Offensive zu wenig getan und in der Defensive zu viel zugelassen, „20 Flanken hatten wir“, referierte Favre. „Wolfsburg hatte 40!“

Zwei dieser 40 Eingaben führten zu den Wolfsburger Toren. Die erste schlug Christian Gentner von rechts, die zweite Marcel Schäfer von links. Beide Male fand der Ball den Weg auf die Stirn von Edin Dzeko, der die Berliner dort traf, wo sie sich am sichersten fühlen. Im Abwehrzentrum, dem Wirkungsfeld von Arne Friedrich und Josip Simunic, der besten Innenverteidigung der Liga. Beim 1:1 schauten beide zu, beim 1:2 stand Simunic bereit zur rettenden Tat, aber das ist eine Geschichte für sich.

Schiedsrichter Kircher irrte zwei Mal - mit fatalen Folgen

Hemingway hat in seine Erzählung über den Jäger Macomber auch einen Schurken platziert. Es ist dies die Frau des Helden, die dessen Glück zu einem flüchtigen macht. Diesen Part übernahm am Samstag Knut Kircher, den man auch bei Hertha als einen der besten deutschen Schiedsrichter schätzt. In Wolfsburg aber irrte er zweimal, mit fatalen Folgen. Ein frühes Berliner Tor von Cicero fand zu Unrecht keine Anerkennung, dafür war der späte Wolfsburger Siegtreffer irregulär, denn Dzeko hatte sich mit beiden Händen an Simunics Schultern versündigt.

Die Klasse einer Mannschaft zeigt sich auch darin, wie sie mit solchen Rückschlägen umgeht. Der sachliche, ruhige Ton, in dem nach dem Abklingen der ersten Erregung Friedrich („Da wurde mit zweierlei Maß gemessen“) und Simunic („Jeder macht Fehler“) ihre Beschwerden vortrugen, spricht für den Charakter der Berliner. Aber auch für ihr schlechtes Gewissen. Alle wussten sie, wie leichtfertig sie die Chance vergeben hatten, Platz eins zu festigen und fünf Punkte zwischen sich und den kriselnden FC Bayern zu legen.

Abends trat Kapitän Friedrich beim Echo auf - und veralberte Hannover 96

Für Herthas Kapitän hatte der Samstag noch ein Nachspiel. Arne Friedrich überreichte bei Echo-Gala am Berliner Ostbahnhof einen Preis an Peter Fox. Fox ist der Frontmann der Band Seeed, die ein anderer Kulturschaffender, Christian Ulmen, mal als Komponisten für eine neue Hertha-Hymne ins Gespräch gebracht hatte. Für ein bisschen mehr Weltläufigkeit, ein bisschen mehr Hemingway als Frank Zander.

Friedrich machte vor dem Millionenpublikum in der ARD eine ungelenke Figur. Das ist ihm nicht weiter vorzuwerfen, sein Kerngeschäft ist ein anderes. Welcher Teufel aber flüsterte ihm zum Abschied diesen Gruß an den Moderator Oliver Pocher ins Ohr? Pocher ist Fan von Hannover 96. „Wo stehen die eigentlich, Olli?“, fragte Friedrich ungefragt. Niemand lachte. Dass Friedrich am Tag des Sturzes von der Tabellenspitze ein billiges Witzchen auf Kosten eines Abstiegskandidaten versuchte, machte seine Mannschaft kleiner, als sie auch am Samstag immer noch war. Ernest Hemingway, der ewige Experte für echte Kerle und solche, die es werden wollen, würde für Herthas Kapitän wohl keine Heldenrolle reservieren.

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