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Das lettische Rollstuhlcurling-Team wollte nicht gegen Russland antreten.

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Lettlands Team startete den Boykottaufruf: „Niemand hier hasst die russischen Athleten“

Lettlands Rollstuhlcurler stellten sich als erstes gegen einen Paralympics-Start der Russen. In der Heimat bieten sie ukrainischen Sportlern Schutz.

Von Max Fluder

An dieser Stelle berichtete das Team der Paralympics Zeitung, ein Projekt von Tagesspiegel und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Alle Texte zu den Spielen rund um Peking finden Sie hier. Aktuelles finden Sie auf den Social Media Kanälen der Paralympics Zeitung auf Twitter, Instagram und Facebook.

Die großen Medaillenhoffnungen der russischen Athletinnen und Athleten bei den Paralympics in Peking endeten am Sonntagabend in einer Aeroflot-Maschine Richtung Moskau. Es war erst der zweite Wettkampftag, aber die knapp 70 Sportler, ihre Trainer, Betreuer, Ärzte und Physiotherapeuten machten sich schon auf dem Heimweg. 

Es blieb ihnen keine andere Wahl: Russland – genauso wie Belarus – darf an diesen Paralympics nicht teilnehmen. Ein schnelles Urteil des Internationalen Sportgerichtshofs (CAS), das den Russen die Teilnahme noch gestatten könnte, scheint außer Reichweite. 

Der öffentliche Druck hatte gewirkt. Russland, das gerade einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, darf nicht an den Paralympics in Peking teilnehmen. Den Ausschluss der russischen und auch der belarussischen Delegation gab das Internationale Paralympische Komitee (IPC) am Donnerstag bekannt – nur etwa 20 Stunden nachdem es Russland und Belarus die Teilnahme unter neutraler Flagge noch in Aussicht stellte.

Wie ist es dazu gekommen?

Was in diesen 20 Stunden passierte, ist schwer zu sagen. Wenn man mit Menschen spricht, die gerade in der paralympischen Blase sind, bekommt man mitunter widersprüchliche Aussagen zu hören. Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt: Es ging hoch her. Im IPC, in verschiedenen Nationalen Paralympischen Komitees (NPC) und bei den Athletinnen und Athleten aus aller Welt. Mutmaßlich versuchten auch nationale Regierungen die Haltung ihrer jeweiligen NPC zu beeinflussen.

Und noch etwas lässt sich festhalten: Das IPC hat seine erste Entscheidung auch deshalb revidiert, weil viele Teams und sogar manches NPC mit Boykott gedroht haben. Das erste Team, das offen aussagte, Matches gegen Russland zu boykottieren, waren die Rollstuhl-Curler aus Lettland. Nur eine Stunde nachdem das IPC die Teilnahme von Russen und Belarussen unter neutraler Flagge erlaubte, kündigten sie den Boykott an. Am nächsten Tag tat es ihnen das Team aus Estland gleich. Es ist, das kann man so sagen, eine tragische, aber erfolgreiche Revolte aus dem Baltikum. Denn der Ausschluss zweier Delegationen – und dann auch noch der russischen – so kurz vor den Spielen, dürfte einzigartig in der Geschichte der Paralympics sein.  

Die Russen traten am Sonntag den Heimweg an.
Die Russen traten am Sonntag den Heimweg an.

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Kurz nach der ersten Entscheidung des IPC, als es so schien, als würden die Russen und Belarussen teilnehmen, traf sich das lettische Rollstuhl-Curling-Team zu einer spontan einberufenen Sitzung. Die Mitglieder des Teams sind die einzigen Athleten, die Lettland dieses Jahr zu den Paralympics geschickt hat, und somit wichtig im Entscheidungsprozess des sehr basisdemokratisch geprägten lettischen NPC.

Das lettische Team musste sich für eine Seite entscheiden

In dieser Sitzung, so erzählt es Zane Skujiņa, Chef de Mission Lettlands, habe man sich innerhalb von etwa 40 Minuten darauf geeinigt, nicht gegen Russland anzutreten. „Es war keine einfache Entscheidung“, sagt sie. „Aber mit alldem, was in der Ukraine los ist – und wir stehen an der Seite der Ukraine – verurteilen wir jede Invasion und Aggression, die Russland und Belarus gerade ausüben.“

Über die Frage, wie die Letten mit der Situation in der Ukraine umgehen sollen, habe man im Team schon vorher gesprochen. Die ursprüngliche Entscheidung des IPC wirkte dann wie ein Katalysator: „Das Team musste sich für eine Seite entschieden – und sie haben sich für die Ukraine entschieden“, sagt Skujiņa.

Für ihre Entscheidung haben die Letten viel Aufmerksamkeit und auch Lob bekommen. Glücklich seien sie damit aber nicht, sagt Skujiņa. Denn ja, ein Zeichen zu setzen und sich klar zu positionieren, sei ihnen wichtig gewesen. Aber die Beziehungen zu den russischen Rollstuhl-Curlern sind gut, ja freundschaftlich. „Die Entscheidung geht nicht gegen die Athleten. Die haben verdient, an den Paralympics teilzunehmen“, sagt Skujiņa. „Es ist ein Bekenntnis gegen das, was gerade in der Ukraine passiert.“

Ein lettischer Trainer half Ukrainern bei der Flucht

Ähnlich eng sind auch die Verbindungen in die Ukraine. Einer der lettischen Trainer, Arnis Veidemanis, arbeitet mit einem Gehörlosen-Curling-Team zusammen und hilft ihnen bei der Flucht. Ein ukrainischer Sportler, der sich vor Ausbruch des Krieges in Lettland aufhielt, ist gerade auf dem Sofa der lettischen Rollstuhl-Curling-Kapitänin, Poļina Rožkova, untergekommen.

Wenige Stunden nach den Letten kündigten die Esten an, Matches gegen Russland fernzubleiben. „Der Grund ist offensichtlich“, sagt die Rollstuhl-Curlerin Signe Falkenberg. „Es ist nicht möglich, ein Spiel gegen eine Mannschaft aus einem Land zu spielen, das gerade einen Angriffskrieg führt.“  

Die Sportler aus der Ukraine haben in Peking schon einige Medaillen gewonnen.
Die Sportler aus der Ukraine haben in Peking schon einige Medaillen gewonnen.

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Absprachen oder gemeinsame Sache habe man mit den Letten nicht gemacht, heißt es von den Esten. Aber sie hätten natürlich geschaut, wie andere NPCs und Athleten reagieren. Auch ihnen täten die russischen Spieler leid, die nun nicht antreten könnten: „Aus der menschlichen Perspektive finden wir es natürlich schade, dass die Russen nicht teilnehmen können“, sagt etwa Andrei Koitmäe, Kapitän des estnischen Teams.

Die Entscheidung der Letten und der Esten – ihre Bereitschaft, Matches gegen Russland fernzubleiben – war zwar nicht zwangsläufig vorhersehbar, aus dem Nichts kam sie aber auch nicht. Denn bereits vor dem Hin und Her des IPC in der vergangenen Woche hatten sich die baltischen und das polnische NPC gegen den russischen Krieg in der Ukraine ausgesprochen.

 „Niemand hier hasst die russischen Athleten“

Nachdem die Letten ihre Boykott-Ankündigung öffentlich gemacht hatten, wurden auch die Überlegungen anderer NPCs bekannt. Auf Ebene der Chefs de Mission sollen einige Vertreter angedeutet haben, dass auch von ihnen Protest zu erwarten sei. Von anderen Rollstuhl-Curling-Teams heißt es, sie hätten überlegt, wie man gegen Russland protestieren könnte. Einige halten einen Boykott aber nicht für die beste Wahl. Der Deutsche Behinderten-Sportverband hat zusammen mit dem österreichischen NPC ein Positionspapier verfasst, in dem der sofortige Ausschluss der belarussischen und russischen Delegationen gefordert wird.

Diese massive Kritik der verschiedenen Akteure soll das IPC dazu bewegt haben, seine Meinung zu ändern und die beiden Delegationen doch auszuschließen. Der IPC-Präsident Parsons nennt in seiner Ansprache aber noch einen weiteren Grund: eine eskalierende Situation im Paralympischen Dorf, in der die Sicherheit nicht mehr gewährleistet und Gewalt nicht ausgeschlossen werden kann.

Menschen, die in den Paralympischen Dörfern leben, nehmen das anders wahr. „Die russischen Athleten waren sehr traurig. Sie haben aber gesagt, sie hätten verstanden, warum sie ausgeschlossen wurden“, sagt etwa Zane Skujiņa, Lettlands Chef de Mission. „Niemand hier hasst die russischen Athleten, es ist nicht aggressiv im Peking-Dorf.“ Auch die estnischen Rollstuhl-Curler nehmen es so wahr: „Wir haben keine langen Gespräche mit den Russen geführt, aber ihnen natürlich ‚Hallo‘ gesagt und ein paar Worte gewechselt“, sagt Andrei Koitmäe. „Es ist eine Art höflicher Umgang.“

Anton Batugin, Cheftrainer des russischen Rollstuhl-Curling-Teams, sagte russischen Medien, dass sein Team Sympathiebekundungen mehrerer anderer Teams erhalten hat. Nach Eskalation im Paralympischen Dorf klingt das nicht.

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