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Sport: Nur das Beste zählt

Frankreich kämpft mit dem neuen Anspruch seiner Fans

Paris. Es waren neue Töne, die da kurz vor Schluss aus allen Ecken des Stadions Geoffrey Grichard von St. Etienne kamen. Die Grande Nation honorierte mit „Sagnol, Sagnol“- Chören die starke Leistung des Offensivverteidigers. Solche Ehren sind ihm zuletzt einige Male unter dem Zeltdach des Münchner Olympiastadions widerfahren; dort intoniert der Gesangsverein vom FC Bayern allerdings lieber dessen deutschen Vornamen, wenn ihr Franzosen-Williieee am rechten Flügel mal wieder richtig aufs Tempo gedrückt hat. Jedenfalls war Willy Sagnol dermaßen inspiriert von der wiedererwachten Zuneigung seiner Landsleute, dass er in seinem Eifer den japanischen Kapitän Nakata von den Beinen holte. Mark Shield, der Schiedsrichter aus Australien, kannte kein Pardon. Er zog sofort die Rote Karte.

Zuvor hatte es die Japaner, die am Ende 1:2 verloren, freilich viel härter getroffen. Weil Inamoto den fast zwanzig Zentimeter größeren Hünen Boumsong im Strafraum am Trikot gezupft hatte, verhängte Shield nicht nur einen Elfmeter, den Pirès souverän vollstreckte, er zeigte Nippons WM-Helden auch noch Gelb. Wegen dieser zweiten Verwarnung fehlt Inamoto heute beim entscheidenden Gruppenspiel gegen Kolumbien.

Ohne die Strategen Zidane und Vieira sowie seinen sportlichen Zwillingsbruder Trézeguet ist Thierry Henry die einzige Figur im Kader der Franzosen, der zur Kategorie Superstars zählt. Von seiner Brillanz, von seinem Tempo, von seiner Gefährlichkeit lebt das französische Spiel, nach ihm lechzt die Galerie. Auch wenn Henry, wie gegen Japan, nur ein paar Minuten vorspielen darf, als die Partie auf der Kippe stand. Doch sobald er sich von der Ersatzbank erhebt und wie eine Ballerina die Strümpfe eine Handbreit übers Knie hochzieht, beginnt die Arena zu kochen. Thierry Henry, die Nummer zwölf, ist das Symbol für Fußball-Frankreichs Größe.

Man ist hierzulande anspruchsvoll geworden. Gehobene Klasse allein genügt nicht – obwohl der neue Coach Jacques Santini die größere Hälfte seines Kaders von den feinen Adressen unter Europas Klubs einberufen hat. Aber wie beim Wein aus St. Emilion muss es „Grand cru“ oder „extraordinaire“ sein, damit der Fußballgenießer zwischen Rhein und Pyrenäen, Mittelmeer und Atlantik auch auf seine Kosten kommt. Frankreich liebt spätestens seit dem WM-Triumph das Außergewöhnliche und Elitäre.

Andererseits wurde dem Nachfolger von Roger Lemerre zugestanden, dieses Turnier auch als Heerschau jener Talente zu sehen, die ihre Karrieren und Konten noch nicht ins Ausland verlegt haben. Bislang scheint ihm die Balance auf diesem Grat zwischen öffentlicher Erwartung und seinem Experiment hinsichtlich eines Generationenwechsels zu glücken. Henry und Co. sind mit sechs Punkten aus der Provinz in Paris eingetroffen. Im vertrauten Quartier von Clairfontaine und in St. Denis, dem Wohnzimmer des französischen Fußballs, sollte bei der Pflichtnummer gegen Neuseeland (Spiel bei Redaktionsschluss noch nicht beendet) nichts mehr schief gehen. Mit allerbesten Aussichten auf das Finale.

Die Lage des Titelverteidigers ist auf alle Fälle weitaus komfortabler als die der Konkurrenz. Der Weltmeister Brasilien und der WM-Dritte Türkei werden sich voraussichtlich gewaltig fetzen müssen beim Kampf ums Halbfinale. Wer die Vorgeschichte dieser beiden Länder aus dem letzten Jahr kennt, kann sich leicht vorstellen, dass der nächste Gegner der Franzosen schon ordentlich gestresst aus dem TGV am Bahnhof Paris Gare de Lyon steigen wird.

Martin Hägele

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