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Es grüßt der selbst ernannte Olympiafavorit. Marcel Hacker setzt sich erneut unter enormen Erfolgsdruck. Dabei muss er erst um die Qualifikation für London kämpfen.

© dpa

Olympia-Serie "Letzte Chance" (1): Marcel Hacker: Hilferuf eines früheren Rebellen

Einer-Ruderer Marcel Hacker scheiterte bei Olympia zweimal an seinen Nerven. Nun setzt er sich erneut unter Druck – für den 35-Jährigen zählt in London nur die Goldmedaille.

Nur alle vier Jahre finden Olympische Spiele statt, und beim Versuch, sich dafür zu qualifizieren oder als Favorit eine Medaille zu gewinnen, kann einiges dazwischenkommen. Wir stellen in den nächsten Wochen Athleten vor, für die London die letzte olympische Chance ist – entweder, um überhaupt einmal bei den Spielen dabei zu sein oder um endlich den erhofften Erfolg zu feiern. Heute beginnen wir mit dem Ruderer Marcel Hacker.

Marcel Hacker sitzt in seinem Zelt und zieht seine Socken über die Füße. Neben dem Zelt sind Boote aufgebockt, die Rollsitze zeigen zum Gras. Hackers Boot ist der schlanke Einer, der mit dem kanariengelben Anstrich. Ein paar Meter weiter kräuseln sich sanft die Wellen des Fühlinger Sees, der Regattastrecke am Stadtrand von Köln. Die Socken liegen jetzt neben Turnschuhen, Hacker stützt sich auf seine Arme, den Oberkörper zurückgelehnt, die Beine angewinkelt. Es sieht lässig aus, und Hacker sagt: „Ich will Gold, was sonst?“ Gold bei den Olympischen Spielen im Einer, was sonst?

Ein typischer Satz für Hacker, in einem Tonfall, den jeder in der Ruderszene von ihm kennt. Mit dieser harten Sprache, die immer auch etwas Einschüchterndes hat und haben soll. Man kann das jetzt als energische Kampfansage verstehen, so hat Hacker diesen Satz auch gemeint. Man kann ihn aber auch als trotzigen Hilferuf verstehen. Es darf doch nicht alles noch kaputtgehen. Nicht jetzt, nicht ausgerechnet jetzt.

Es ist eine idyllische Szene an diesem Vormittag am Fühlinger See. Und eine gespenstische. Denn hier ruft sich ein spektakulär Gescheiterter zum Olympia-Favoriten aus. Auf dem Fühlinger See trägt der Deutsche Ruderverband seine Kleinboot-Meisterschaft aus, es geht um die Tickets für die Olympischen Spiele. Marcel Hacker, 1,96 Meter groß, Körper wie eine griechische Statue, ist nicht mal ins Finale gekommen. 1200 Meter lang hat er sein Halbfinale dominiert, dann, schlagartig, zog er die Blätter nur noch wie in Zeitlupe durchs Wasser. Die Kraft war weg, er wurde Vierter. Der Fühlinger See steht für das fast endlose Leiden des Marcel Hacker von der Frankfurter Rudergesellschaft.

Ein anderer als er wäre jetzt ausgebootet worden. Aber Hacker hat den Einer in Deutschland ein Dutzend Jahre dominiert und in dieser Rolle 42 Weltcup-Rennen gewonnen. Er darf deshalb bei der Rotsee-Regatta Ende Mai ein Ausscheidungsrennen fahren, ein Entgegenkommen des Verbands. In Luzern wird es zum Showdown mit Karsten Brodowski aus Berlin kommen. Brodowski ist seit Köln die Nummer eins im Einer.

20 Minuten nach dem verpatzten Rennen marschierte Hacker zum Verbandsarzt. Als der Gescheiterte wieder bei seinem Trainer Ralf Hollmann auftaucht, sagt er: „Ein Infekt.“ Hollmann nickt bedächtig, das hat er sich schon gedacht. „Der Marcel lässt sich so ein Rennen nicht mehr nehmen, wenn er gesund ist.“

Nein? Der Infekt hat ihn geschwächt, stimmt schon. Doch später sagt Hacker auch: „Ich war übertrainiert.“ Die Vorbereitung auf den Showdown läuft, Hacker könnte jetzt vorsichtig sein, er könnte sagen, er hoffe, dass er in London dabei ist. Aber Hacker sagt noch mal: „Ich will Gold, was denn sonst?“ Der Ton ist so hart wie beim ersten Mal.

Was denn sonst? So tickt Hacker. Zweimal ist er bei Olympischen Spielen spektakulär gescheitert, 2004 in Athen und 2008 in Peking, jedes Mal hatte er das Finale verpasst. Er, der Weltmeister von 2001 und Vize-Weltmeister von 2003, der Olympiadritte von 2000, der Mann, der 41 Weltcup-Rennen in Folge gewonnen hat. Nach solchen Pleiten peilt man die Olympiateilnahme als netten Abschluss der Karriere an. Oder man jagt wild entschlossen dem Triumph nach, der eine Karriere offenbar erst vollendet. Den Olympiasieg. Hacker ist der wilde Jäger, er jagt mit dem Tunnelblick.

Nach der Pleite in Athen war sein Selbstwert "auf null"

Am Fühlinger See steht sein Trainer, blickt zum Wasser und murmelt: „Wenn man Gold will, müssen die Verhältnisse gut sein. Im Moment sind sie nicht gut.“ Er hörte zu, als Hacker von Gold redete. Jetzt starrt er aufs Wasser und sagt: „Das hat mich gewundert.“

Ausgerechnet Hacker setzt sich so unter Druck. Athen, Peking, diese Pleiten haben mit Druck zu tun. „Ich war im Kopf nicht frei“, sagt Hacker in seinem Zelt. „Ich bin mit dem Druck nicht klargekommen.“ Jetzt läuft er zum dritten Mal Gefahr, dass er in die Falle läuft, die er sich selbst gestellt hat. In Athen und Peking wurde er Opfer der Rolle, die er lustvoll besetzte: der unbeugsame Rebell im einsamen Kampf mit Feinden und Neidern. Er mied das Hotel der Nationalmannschaft, trainierte allein mit seinem Coach Andreas Maul, fühlte sich vom Verband schlecht behandelt und nervte Teamkollegen und Konkurrenten mit rotzigen Sprüchen und Macho-Gehabe.

In dieser Wagenburg überhöhte er grotesk sich und seine Bedeutung. In seiner Wahrnehmung starrte ganz Deutschland auf ihn und seinen Olympiaauftritt. Und als Rebell musste er Gold holen, sonst hätte er lächerlich gewirkt. Das war der Druck. Aber er verkraftete ihn nicht.

In Athen fühlte er sich als „Loser der Nation“. Sein Selbstwertgefühl „lag bei null“. Hacker zählte seine verbliebenen Freunde und strich aus seinem Telefonbuch die Hälfte der Namen. Außerdem kaufte er ein Rennrad und fuhr Rennen. „Es war eine Art Therapie.“ Aber sie zeigte keine lange Wirkung, in Peking wiederholte sich das Drama. Hacker gab immer noch den Einzelkämpfer, der mit freiem Oberkörper über den Sattelplatz stolzierte wie ein Pfau.

Es gibt spektakuläre Niederlagen, die Mitleid erregen. Die Pleiten von Hacker erzeugten Häme. Wieder fühlte er sich als „Loser der Nation“. „Ich habe zweieinhalb Jahre eher verdrängt als verarbeitet“, sagt Hacker heute. Aber nach Peking gehörte zur Therapie, dass er sich von Maul trennte und in einen Vierer umstieg. Der Einzelkämpfer wurde zum Mannschaftssportler. Er hatte die Kämpfe satt, er war müde. Allein schon das Bemühen, die eigene Rolle durchzuhalten, hatte enorme Kraft gekostet. Dazu noch die ganzen Reibereien mit der Umwelt, das war zu viel. „Die Auseinandersetzungen mit dem Verband“, sagt er, „waren definitiv Energieverschwendung.“

Er redet normalerweise auch weniger hart als früher, Sprache dient nicht mehr als Schutzpanzer. Köln ist eine Ausnahme. Der sensible Marcel Hacker kommt nun deutlicher durch, der Hüne, der so wunderbar malt und fotografiert. Diese Seite hatte er stets versteckt. Hacker hat geheiratet, seine Frau arbeitet als Mentaltrainerin, einer ihrer Klienten ist ihr eigener Mann. Hacker ist auch Vater eines kleinen Kindes, dem er nachts die Flasche gibt. „Ich bin erheblich ruhiger geworden“, sagt Hacker. Stimmt, sagt Trainer Hollmann. „Psychisch ist Marcel viel stabiler als früher.“

Wie stabil?, das ist die Frage. Stabil genug, dem gewaltigen, selbst erzeugten Druck standzuhalten? Er ist am Sonntag 35 Jahre alt geworden, sein letzter Weltcupsieg liegt sieben Jahre zurück. Aber Hacker sagt: „Wir haben an allen Stellschrauben gedreht.“ In München arbeitet er mit einer Psychologin.

Auf Hackers Homepage läuft eine digitale Uhr, ein Countdown, der am Eröffnungstag der Olympischen Spiele endet. Der frühere Rebell hat die Uhr lange vor jenem Moment am Fühlinger See installiert, in dem sein Trainer auf Wasser blickt und seufzt: „Ohne Drama geht es bei Marcel nicht.“

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