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© Alamy

Olympiastadt: Mein Vancouver

Unser Autor wurde mit seinem Buch „Generation X“ ein Weltstar. Er lebt dort, wo nun die Olympischen Spiele stattfinden. Ganz ehrlich: Komischer kann man über seine Heimatstadt kaum schreiben

Manchmal, weit im Osten, in Toronto oder Ottawa, höre ich Leute sagen: „Hey, fährst du dieses Jahr eigentlich nach ,Van’?“ Darüber kann ich nur fassungslos den Kopf schütteln und mich wundern. In Vancouver gibt es East Van und North Van und West Van, nicht aber einfach nur „Van“. Vancouver „Van“ zu nennen ist, wie zu San Francisco „Frisco“ oder Las Vegas „Vegas“ zu sagen. Nein – noch schlimmer – es ist, als würde man Portland „Portl“ nennen.

Und wo ich schon mal beim Thema bin: Menschen aus dem südamerikanischen Land Kolumbien heißen auf Englisch Colombians, Menschen aus B. C. British Columbians. Ich weiß, es ist nur ein Vokal – aber er liegt uns sehr am Herzen.

PERLEN UND MÜSLI

Hippies mögen aus der Mode sein, aber sie haben einiges für Vancouver getan. Vancouver war Kanadas San-Francisco-Ersatz, vor allem die Gegend rund um die West 4th Avenue. Meine eigenen Erinnerungen aus dieser Zeit sind verständlicherweise eher bruchstückhaft, aber wie ich festgestellt habe, geht es denen, die damals dort lebten, ganz ähnlich. Es war alles ziemlich groovy und Grateful-Dead-mäßig, und wäre es nach mir gegangen, hätte es nicht schnell genug verschwinden können.

Aber ich bin einer der Ersten, die zugeben, dass vieles, was Vancouver heute charakterisiert, von den Hippies herrührt: die fehlenden Schnellstraßen, Greenpeace, regionale Küche und Fusion Food, utopische Entwürfe in der Stadtplanung und ein Sinn für persönliche Freiheit, wie er in manch anderen Städten nicht existiert.

FARBEN

Vancouver ist ganz offensichtlich die grünste aller Städte, die Palette umfasst Zeder, Tanne, Rhododendron, Wein, Ahorn.

Der Himmel in Vancouver hat seinen ganz eigenen Farbton, genau wie London oder Los Angeles – ein milchiges Grau, das mit den stahlblauen Berghängen verschmilzt. Einheimische können bei einem Film allein an der Art des Lichtes erkennen, ob er hier gedreht wurde.

In Vancouver regnet es oft, und die Gebäude sind undicht. Klingt simpel. Aber in den 80ern beschloss die Regierung, alle neuen Gebäude der Stadt vollkommen wasserdicht zu machen, und erließ einen Haufen Vorschriften – die dazu führten, dass die störrischen Häuser weiterhin undicht sind, nur kostspieliger, was einige Familien in den Bankrott getrieben hat. Die Prozesse nehmen kein Ende. Ein Nebeneffekt dieser dummen Idee ist, dass viele Gebäude der Stadt mit Plastikplanen abgedeckt sind, entweder in heiterem Orange oder sonnigem Blau. Diese fröhlichen Fahnen sind überall, und wenn man sie von ihren verhängnisvollen Begleiterscheinungen trennt, können sie wirklich freundlich aussehen. Neulich, beim Lunch mit einem Freund in einem Drehrestaurant, haben wir gewettet, wer mehr Plastikplanen entdecken würde. Keiner von uns hat gewonnen, denn als die Rechnung kam, waren wir noch mittendrin.

SEE-THROUGHS

In 30 Jahren werden die meisten nordamerikanischen Städte nicht viel anders aussehen als heute. Die Aura von Lincoln, Nebraska, wird unverändert und Chicago immer noch Chicago sein. Ditto, Halifax, Tallahassee – ein paar neue Gebäude, ein bisschen mehr Menschen, höhere Bäume, Sie verstehen, was ich meine. Aber Vancouver? Wir haben noch nicht mal einen blassen Schimmer, wie dieser Ort im kommenden Jahr aussieht, ganz zu schweigen von ein paar Dekaden.

Ein typisches Beispiel sind die sogenannten „See-throughs“, Glastürme, blassblau oder blassgrün, die die Skyline der Stadt seit den 90ern dominieren. Sie wurden als Absicherung für wohlhabende Hongkonger gebaut, die sich gegen das Schlimmste wappnen wollten, bevor Hongkong 1999 an China zurückgegeben wurde. Aber der Übergang war weich, und daher sind die Türme so leer, wie sie aussehen. Der eine oder andere Vermieter stellt vielleicht ein paar dieser weißen Plastikstühle für $ 19,99 auf den Balkon, um zu suggerieren, dass dort jemand wohnt, aber diese Räume sind zu haben, und zwar billig, billig, billig.

Ironischerweise wurden diese Türme für Ausländer gebaut, aber sie sind längst von Einheimischen entdeckt worden, die kaum glauben können, wie viel Lebensqualität es für so wenig Geld gibt. Die lokale Grundschule ist seit Jahren voll. Niemand hatte damit gerechnet.

Viele Besucher glauben, diese Glastürme machten den Charakter der Stadt aus. Ein Freund aus den Staaten erzählte seiner Mutter, dass Vancouver eine Stadt aus Glasbauten und ohne Vorhänge sei, wo jeder den anderen beobachten kann. Anders gesagt, ein Paradies für Voyeure. Für uns Bewohner von Vancouver haben diese Türme eine Reihe von Bedeutungen: die Macht der globalen Geschichte, unsere Leben zu beeinflussen, die Entfremdung des Durchschnittsbürgers vom politischen Prozess – sie sind große gläserne Totems, die uns „F-you“ zurufen. Zugleich symbolisieren sie die frische Brise der Neuen Welt und einen zarten Wunsch nach sozialer Transparenz, eine Zurückweisung von Klassenstrukturen und Hierarchien. Was auch immer, es dauert auf jeden Fall nur ein paar Wochen, so ein See-through zu bauen. Man fährt in die Ferien und kehrt an einen vollkommen veränderten Ort zurück. Wären die Leute, die diese See-throughs bauen, doch nur für den Straßenbau zuständig.

PAARE

Höchstens in Rio de Janeiro kann es annähernd so viele interkulturelle Ehen geben wie in Vancouver. So gut wie jeder in Vancouver ist Teil eines solchen Paares oder kennt zumindest mehrere interkulturelle Paare. Niemand verschwendet allzu viele Gedanken daran, es fällt überhaupt erst richtig auf, wenn Leute aus anderen Städten es bemerkenswert finden. Poetisch ausgedrückt kommt es mir vor, als ob die Geschichte des Menschen, die in Asien begann und sich durch die Jahrhunderte immer weiter gen Westen bewegte, nun endlich den Kreis schließt und Nordamerika mit Asien verbindet. Oder ... eigentlich ist alles gesagt. Es gehört ganz einfach zum Leben in Vancouver, so wie die Luft: schön und sauber, mit Salzwassergeruch und dem Blütenduft der Japanischen Pflaume.

DIE 5 HÄUFIGSTEN NACHNAMEN IN VANCOUVER

1. Lee 2. Wong 3. Chan 4. Smith 5. Kim

FLEECE

Fleece ist, zusammen mit Gore-tex, Neopren, Klettverschluss, beschichteten Fasern und Khaki, Vancouvers offizieller Stoff. Es wiegt wenig, ist für Wintersport und Segeln geeignet und hält warm. Einziger Nachteil: Wenn Fleece fusselig wird, sieht es ziemlich gruselig aus. Fleece ist einfach Teil des allgegenwärtigen Outdoor-Looks, für den Vancouver Vorreiter war, eine Wanderschuh-und-Nylonparka-Ästhetik, die unfreiwillig in den 70ern und 80ern kreiert wurde. In den vergangenen Jahren hat sich diese Outdoor-Vorliebe mit der für Yoga-Klamotten gekreuzt – leichte Stoffe, Reißverschlüsse, die man festhaken kann, und das wichtigste modische Statussymbol der Stadt: Löcher für die Daumen an den Ärmeln.

GROUSE MOUNTAIN

1967 kehrte mein Vater mit einem Reh, das auf den Kofferraum geschnallt war, von einem Jagdausflug zurück. Obwohl wir damals in einem Vorort von West Van wohnten, schien das Bild eines auf den Kofferraum gebundenen Rehs weder unpassend noch seltsam. Nur 450 Meter von unserem Haus entfernt gab es einen Zaun, der West Vancouver von dem trennt, was auf seiner anderen Seite liegt, und das ist, abgesehen von ein paar Starkstromleitungen, Forstwegen oder Bahngleisen, raue Wildnis. Meine Eltern leben immer noch in der Gegend, und wenn wir Besuch von außerhalb haben, fahre ich im SkyRide den Grouse Mountain hoch und zeige ihr Haus meinen Bekannten aus der Gondel heraus. Natürlich zeige ich auch die Wildnis nördlich des Viertels – nur einen Steinwurf entfernt, hinter dem Zaun – und meine Bekannten sagen: „Mein Gott, Douglas, ich dachte, das mit der Wildnis hättest du eher metaphorisch gemeint …“ Sie stehen dann da und starren ins Capitano Valley hinab. Das Tal ist zwar vor langer Zeit mal komplett abgeholzt worden, aber alles ist nachgewachsen und geht immer noch als Wildnis durch.

Boomp! – die Gondel ist oben angekommen. Die Schneedecke ist dick; die umliegenden Gipfel ragen in den Himmel, zu steil für den Forstbetrieb. Hier dämmert es jedem, egal, ob er gerade zum ersten Mal da ist oder eine Jahreskarte hat, dass wir an einem Ort leben, der auf der ganzen Welt seinesgleichen sucht.

CANNABIS-PLANTAGEN

Vancouvers Marihuana ist weltberühmt für seine Stärke. Es ist eine Million Mal stärker als alles, was Sie in der High School oder im College geraucht haben. Ein großer Teil dieses Marihuanas kommt von kleinen Cannabis-Plantagen – Hydrokulturen im Erdgeschoss. In fast jedem Block in Vancouver gibt es mindestens ein Haus mit einer Cannabis-Plantage – mehr als man vermuten würde. Mit ein bisschen gärtnerischem Ehrgeiz, ein wenig Verstand und ein paar Drähten, um Elektrizität von BC Hydro abzuknapsen, ist es ein bombensicherer Weg zu viel und zu schnellem Geld. Marihuana zählt zu den fünf größten Gewerben in British Columbia.

Um eine solche Plantage zu finden, halten Sie nach einem Haus (meist vermietet von unwissenden Idioten) Ausschau, dessen Gras im Vorgarten nicht gemäht ist, wo die Feuchtigkeit in den Fensterecken sitzt und nur ein Licht in einem der vorderen Fenster brennt. Die Plantagenbesitzer kommen nie auf die Idee, vielleicht mal ein zweites Licht anzumachen, damit das Haus wenigstens etwas bewohnt aussieht, wahrscheinlich, weil das noch mehr Strom verbrauchen würde.

Diese Plantagen wurden früher von den Behörden eher ignoriert, aber seit kurzem wird härter durchgegriffen. Die Marihuana-Szene wandelt sich täglich. In der einen Woche kontrollieren die Biker und die Vietnamesen das Geschäft; in der nächsten geben die USA Kanada Millionen von Dollar, um aufzuräumen.

DER HAFEN

Als ich fünf war, fuhren wir einmal mit der ganzen Familie im Auto über die Second Narrows Brücke. Meine älteren Brüder zogen mich auf, weil sie lesen konnten, ich war ganz kurz davor, es zu können. Wir fuhren am Alberta Wheat Pool vorbei, den riesigen Getreidesilos am östlichen Stadtrand. Ein großer Teil des Getreides aus den Prärieprovinzen geht von hier in alle Welt, und an der Südseite stand mit purpurroter Schrift geschrieben: „ALBERTA WHEAT POOL“, in 30 Meter hohen Buchstaben. Meine Brüder ärgerten mich noch immer, und der älteste sagte: „Ich wette, dass du das nicht lesen kannst!“ Ich blickte auf die großen roten Buchstaben und bewies ihm das Gegenteil: „Da steht Alberta Wheat Pool.“ In genau diesem Moment machte es klick in meinem Gehirn – und seitdem lese ich mehr oder weniger in der gleichen Geschwindigkeit. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens liegt der Sasketchewan Wheat Pool. Wären wir an seinen Silos vorbeigefahren, ich wäre vielleicht immer noch Analphabet.

DIE ZAHL ACHT

Die Zahl Acht steht für Glück in der chinesischen Kultur. In den späten 90ern, als Hongkongs Zukunft ungewiss war, versuchten die großen Wohnungsbauer verzweifelt, für ihre Bauten Adressen mit möglichst vielen Achten zu bekommen, es war fast schon peinlich, ihnen dabei zuzusehen (1888 Pacific, 888 Pacific usw.). Aber nach einer Weile wurde es zur Gewohnheit, einfach immer eine Acht dranzuklatschen, und heute sieht man Achten ungefähr überall. Schauen Sie sich einfach mal die Telefonnummern der Immobilienmakler an.

Als ich im vergangenen Jahr eine neue Mobilnummer haben wollte, fragte mich der Anbieter, ob ich die „asiatische Option“ bevorzuge. Ich sagte Ja, der Typ setzte einen Haken in das Kästchen auf dem Bildschirm, und ich bekam eine neue Nummer mit vier Achten.

Die Pechzahl, die man nicht verwenden sollte, ist die Vier. Wenn Ihre Adresse 44th Street Nr. 44 lautet, ist das, als würden Sie in der Qualvoller-Tod-Straße Nr. 666 wohnen. Die Sieben bringt auch kein Glück, aber die Vier ist schlimmer. Das erkennt man vor allem an den Aufzügen in Vancouver, die wahrscheinlich einzigen der Erde, auf deren Tasten die Etagen 4, 13, 14, 24, 34 und 44 fehlen.

IMMOBILIENGESCHÄFTE!

Die Immobiliengeschäfte bekommen ein Ausrufezeichen, weil sie Vancouvers Lieblingssport sind, weit vor Skilaufen oder Segeln, außerdem sind sie entscheidend für die städtische Psyche. Immobilienmakler sind fast schon lokale Berühmtheiten, und der wöchentliche Immobilienteil der Zeitung wird mit Spannung geöffnet wie ein Glückskeks.

Ob ein Viertel gut oder schlecht ist, kann man an der Anzahl der „For Sale“-Schilder vor den Häusern ablesen: Zu wenig Schilder ist nicht gut, aber zu viele ist sehr, sehr, sehr schlecht. Ein einziges „For Sale“-Schild pro Block ist dagegen genau richtig. Für den Preis eines Ein-Zimmer-Schuhkartons in Vancouver bekommen Sie übrigens im Rest von Kanada ein Fünf-Zimmer-Steinhaus mit 4000 Quadratmetern Land drum herum.

Sollten Sie mal in einem öden Gespräch mit jemandem aus Vancouver stecken, erwähnen Sie einfach das Thema Immobilien, lehnen Sie sich zurück und schauen Sie zu, wie die Unterhaltung auf Autopilot weitergeht. Und für alle, die irgendwann mal versucht haben, auch nur etwas halbwegs Vernünftiges in Vancouver zu mieten – die einzige Möglichkeit, das Geld für die Miete zusammenzubekommen, ist, eine Marihuana-Plantage anzulegen.

YVR

Für viele beginnt und endet Vancouver am Flughafen YVR. Ich verbringe viel zu viel Zeit an Flughäfen und bin so mit den Jahren ein Experte auf diesem Gebiet geworden – und es macht mich ein bisschen stolz, zu sagen, dass YVR so ziemlich der beste Flughafen von allen ist. Er funktioniert nicht nur reibungslos, sondern gibt den Reisenden gleich noch einen Schnellkurs im Vancouver-Stil: glatte Flusskiesel; Steine aus dem Ski-Ort Whistler; Glas, Glas, Glas; Zedernholz; und – das Beste von allem – eine fantastische Sammlung von Native Art der Westküste. Wäre er schlecht gemacht worden, hätte der Flughafen leicht zu einer Disney-Version des Vancouver-Stils werden können. Aber wenn ich länger drüber nachdenke: Vielleicht ist das auch völlig unmöglich. Vancouver ist eine der wenigen Städte, die sich der Gleichmacherei und dem keimfreien globalen Geschmack verweigern. Eine vielteilige Stadt, die sich nie wiederholt. Einzigartig – und mein Zuhause.

Sollten Sie also gerade ankommen: willkommen! Und falls Sie gerade abreisen, kommen Sie doch bald wieder, und denken Sie daran, wie gut der Regen für Ihren Teint war, und dass die Welt doch wirklich sehr grün ist.


Aus dem Englischen von Anna Kemper.

Douglas Coupland

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