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Pro & Contra zur EM: Wir sehen eine tolle EM – oder etwa nicht?

Klasse-Niveau, berauschendes Fest - oder dröges Ballgeschiebe? Viele können sich nicht entscheiden, wie Sie die EM finden sollen. Der Tagesspiegel auch nicht. Deshalb lassen wir zwei Autoren zu Wort kommen.

Die Besten stehen im Halbfinale! Das ist schon mal eine sehr gute Nachricht. Zu oft setzen sich im Leben die Schlechteren durch. Aber diese Europameisterschaft kennt sportlich kein Mitleid. Freuen wir uns also auf dieses Halbfinale. Die Deutschen spielen herrlich offensiv, die Portugiesen kommen so langsam in Schwung, ja selbst die Italiener wissen, wo das Tor des Gegners steht, auch wenn sie dann meist vorbeischießen – dann aber auch so prächtig unterhalten, wie Pirlo mit seinem Löffelelfmeter. Und die System-Spanier erst einmal. Wenn man den überflüssigen ARD/ZDF-Kommentar runterschaltet, dann lässt sich ohne die bittere Kommentatorenkruste der süße Kern, die Hochkultur des Fußballs richtig genießen. Wann und wo schon außerhalb des E-Jugend-Fußballs führt eine Mannschaft die Gegner so vor? Sportlich hat sich das Turnier schon über jede Kritik gespielt. Es ist die EM-Show der Superstars. Das Leiden mit den Gescheiterten Schewtschenko und Ibrahimovic war genauso unterhaltsam wie das Jubeln mit Gomez (stellvertretend, bei den Deutschen ist das Kollektiv der Star), Ronaldo, Xavi oder dem durchgeknallten Balotelli.

Verbotene Bilder der EM 2012:

Es ist außerdem konsequent, dass sich die sportlich nicht konkurrenzfähigen Gastgeberländer schnell verabschiedet haben – erinnert sei an die WM 2002, als sich Japan und Südkorea durchschummeln durften. Dieses Turnier ist nicht nur hochklassig. Es ist auch gerecht und für den Fernsehzuschauer aufregend. Mag die Uefa auch mit ihren glattgebügelten Fernsehbildern versuchen, den Unterhaltungsfaktor keimfrei zu halten, so keimen die Überraschungsmomente rund um die Spiele. Und wie sie wuchern diesmal!

Das ZDF kann die Uefa nicht kontrollieren. Es ist inzwischen oberkultig, was Müller-Hohenstein und Kahn auf Usedom so vermoderieren. Fernab von Polen, fernab der Realität. Der Insel-Irrsinn, Heizdecken-Fußball vom ZDF-Strand – oder nicht? Müller-Hohenstein demonstrierte, dass ihr Publikum keineswegs überaltert ist und interviewte Zuschauerin Malin (1).

Müller-Hohensteins Fazit nach ihrem einseitigen Gespräch mit einer Einjährigen: „Toller Nachwuchs.“ Tolle EM auch, keine Frage.

Die Gegenmeinung

Jetzt heißt es vorsichtig sein: dass man nicht in dieses militärische Gerede verfällt von „offenen Visieren“, „Kampfspielen“ und vergangenen „Fußballschlachten“, denen das „sterile Gekicke“ bei der EM 2012 nicht mehr gleichkommt. Ein jeder prüfe sich: ob die Einwände, die er gegen das Turnier hat, rein nostalgischer Natur sind. Die sentimentale Sehnsucht nach Fehlern, die heute nicht mehr gemacht werden – letztlich entlarvt sie den, der sie hegt, als reaktionären Holzkopf.

Vielleicht sollte man daher lieber von Bedauern sprechen – darüber, dass der Fußball einen toten Punkt erreicht hat. Es ist der Fluch der Perfektion, dass sie ein Geschehen vorhersagbar macht. Nirgendwo ist das so verwirklicht wie im Spiel der Spanier. Ball annehmen – Weiterspielen – Ball annehmen – Weiterspielen – Ball annehmen – Weiterspielen – Ball annehmen – Steilpass – im Idealfall Tor, ansonsten: Ball schnell zurückerobern, dann Weiterspielen... Was fußballerisch tadellos ist, hat für Rezipienten den Effekt von Schäfchenzählen – man wird in den Schlaf gepasst von der besten Mannschaft der Welt, die zugleich die langweiligste ist.

Halbfinaleinzug geglückt: Die deutschen Spieler in der Einzelkritik

Dem Team, das so zu spielen vermag, ist daraus ebenso wenig ein Vorwurf zu machen wie all den anderen, die bei dieser EM limitiertere Gegner souverän aussteigen ließen. Das Turnier aber, dessen spannendstes K.-o.-Spiel bis dato 0:0 nach Verlängerung ausging, darf getrost als Enttäuschung bezeichnet werden.

Denn wo das Spiel so beherrschbar geworden scheint, verliert es seinen spielerischen Kern. Was da Abhilfe schaffen kann? Nicht die verbleibenden drei Spiele der EM 2012. Wer auch immer da gewinnt, er wird einen längst bekannten Plan aufgehen lassen.

Was jetzt noch an Spannung bleibt, rührt allein aus der Frage, wie der Fußball diesen toten Punkt überwindet: wann Mannschaften wieder in der Lage sein werden, sich durch Offensive gegenseitig so zu fordern, dass die heute gängigen Abwehrkonzepte grundlegend versagen. Die Zeit wird kommen, in der die Welt des Fußballs einmal mehr brüchig wird und dem Unvorhersehbaren wieder Räume anbietet. Die EM 2012 aber ist – mit all ihren so penetrant folgerichtigen Gewinnern – jetzt schon eine verlorene.

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