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Sport: Riskante Fahrt

Die Abfahrt der Weltklasse-Skiläuferin Hilde Gerg mit einem kaputten Kreuzband ist für einen Mediziner schlicht „Wahnsinn“

Berlin. Hilde Gerg war am Samstagabend im „Aktuellen Sportstudio“. Sie hat nett gelächelt und artig geantwortet. Sie hat es ja überstanden. Sie ist am Mittag ohne Probleme ins Ziel gekommen in Lenzerheide, bei der Weltcup-Abfahrt. Als 52. nur, eigentlich ein Resultat, das einer Weltklasse-Skifahrerin wehtut, aber sie hatte ja dieses extrem lädierte linke Knie. Es ist erst zwei Wochen her, dass ihr Kreuzband verletzt wurde. Nur eine Frage musste sie im Sportstudio nicht beantworten: Wer, Frau Gerg, schützt Sie eigentlich vor sich selber?

Eine Weltcup-Abfahrt mit angerissenem Kreuzband, das ist wie eine Autofahrt im stockfinsteren Tunnel mit Sonnenbrille vor den Augen. „Es ist ein Wahnsinn, das Knie so zu belasten“, sagt Josef Poschenrieder, Arzt in der Orthopädischen Klinik Bad Wiessee. Der Orthopädie-Professor und Sportarzt Bernd Michael Kabelka sagt: „Ein Zeitraum von nur zwölf Tagen ist bei so einer Verletzung extrem kurz. Der leichteste Fehler bei einer Geschwindigkeit von 100 Kilometern hat fatale Folgen.“

Gerg wurde nicht operiert, das bedeutet, dass das Kreuzband nur angerissen, nicht komplett abgerissen ist. Aber auch mit einem angerissenen Kreuzband benötigt ein Patient „sechs bis zehn Wochen, damit er sein Knie wieder einigermaßen belasten kann“, sagt Kabelka. In dieser Zeit müssen allein die Muskeln verhindern, dass sich Ober- und Unterschenkel zu weit voneinander wegbewegen. Gerg ist durchtrainiert, sie hat gute Muskeln. „Aber zu glauben, dass die Muskeln bei einer Abfahrt alles übernehmen, ist Augenwischerei“, sagt Kabelka. Wenn nicht die kleinste Störung bei der Fahrt auftritt, passiert erst mal nichts. „Aber schon beim leichtesten Schlag oder wenn sie nur ein bisschen aus der Kurve getragen wird, ist das hoch riskant“, sagt Kabelka. Dann kann der Meniskus reißen oder blockieren, und im schlimmsten Fall - bei einem Sturz – ist der ganze Bewegungsapparat kaputt. „Wenn der Meniskus blockiert“, sagt Kabelka, „steckt das Knie wie in einer Schraubzwinge. Da nützt mir der stärkste Muskel nichts mehr. Und was dann passiert, überlasse ich der Fantasie jedes Einzelnen.“

Gerg hatte zu ihren Trainern gesagt: „Ich fahr da jetzt raus.“ Aber warum verhindern dies nicht die Trainer oder der Verband? „Das ist ein ganz heißes Thema“, sagt Poschenrieder. Zweifellos. Denn der alpine Skizirkus hat gnadenlose Gesetze. „Wir haben hier nichts anderes als Brot und Spiele, das muss man ganz klar sehen“, sagt Hubert Hoerter, der Arzt der deutschen Ski-Nationalmannschaft. „Da machen auch Industrie und Medien enormen Druck.“ Hoerter warnt jeden Einzelnen, „aber wenn einer trotzdem weiterfährt, ist es seine Entscheidung“.

„Ich rechne damit, dass sie in nächster Zeit einen Unfall hat wegen des instabilen Knies“, sagt Poschenrieder, „und das könnte alle möglichen Folgen haben. Wenn Gerg stürzt und dabei einen Streckenposten verletzt, möchte ich nicht in der Haut der Trainer oder Funktionäre stecken.“

Gerg steht ja nicht allein. Auch Fußball-Profis gehen längst über alle Grenzen. Der Bayern-Profi Hasan Salihamidzic erlitt einen Kreuzbandriss und „fing dann viel zu früh an“ (Poschenrieder). „Der Erfolg ist jetzt, dass er schon wieder einen hat.“ Auch Hertha-Profi Marko Rehmer spielte schon sechs Wochen, nachdem er einen Außenbandriss und einen Kapselriss im Sprunggelenk erlitten hatte. „Die gehen in einem Zustand auf den Platz, in dem würden Normalsterbliche nicht mal ihre Frau zum Einkaufen begleiten“, sagt ein Berliner Spitzen-Orthopäde. Das Resultat kommt ein paar Jahre später. Dauerhafte Destabilisierung des Bewegungsapparats, frühzeitige Arthrose. „30-Jährige können dann nicht mehr normal gerade laufen“, sagt der Berliner Mediziner.

„Bei Gerg besteht die Gefahr einer frühzeitigen Arthrose“, sagt Josef Poschenrieder. Gerg ist 27.

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