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Sport: Rückkehr nach Ovalie

Der Sensationssieg gegen Neuseeland hat WM-Gastgeber Frankreich die Rugby-Euphorie zurückgebracht

Der Hype um Sébastien Chabal war zwischenzeitlich das Einzige, was von der Rugby-Euphorie der Franzosen übrig geblieben war. Vor der WM einigten sich die Pressevertreter des Gastgebers auf der verzweifelten Suche nach einem Star schnell auf den vollbärtigen und langhaarigen Hünen. Ein Schriftsteller erklärte den 1,92 Meter großen und 115 Kilogramm schweren Chabal gar zum Inbegriff des wilden Galliers, von denen nach dem mittlerweile überholten nationalen Selbstverständnis alle Franzosen abstammen. Doch auch Chabal konnte nicht verhindern, dass die Begeisterung seiner Landsleute für seinen Sport mit dem Eröffnungsspiel der WM durch die Niederlage gegen Argentinien fast ganz zum Erliegen kam.

Vier Wochen später nimmt die Euphorie langsam wieder die Form von vor der WM an, als man fast den Eindruck hatte, ein ganzes Volk konvertiere schlagartig zum Rugby. Nach dem Viertelfinal-Sieg Frankreichs gegen den Titelfavoriten Neuseeland letztes Wochenende war nicht nur Paris voll von jubelnden Menschen und Autokorsos. Präsident Nicolas Sarkozy und Premierminister François Fillon und mehrere Minister fielen den Spielern und dem Nationaltrainer Bernard Laporte noch im Stadion um den Hals.

Der Jubel über den Triumph war deshalb so entfesselt, weil nichts darauf hingedeutet hatte. Nach der Auftaktniederlage hatten die meisten Franzosen mit einem frühzeitigen Ausscheiden ihres Teams gerechnet, die französische Presse spekulierte vor dem Viertelfinale gar schon über den Nachfolger des Nationaltrainers. Schon lange steht fest, dass Bernard Laporte nach der WM Staatssekretär für Sport werden soll. Zu diesen Anzeichen von Defätismus passte es gut, dass während der Gruppenphase auch die Einnahmen aus dem Tourismus und der Werbung durch die WM nur halb so hoch wie erwartet ausfielen. Auch die folgenden Siege in den Gruppenspielen taugten kaum zum Stimmungsumschwung – zu unterlegen waren Namibia, Irland und Georgien.

Beinahe ironisch mutet es an, dass sich der Anlass für das Comeback der Euphorie nicht in Frankreich ereignete – sondern in Cardiff, wo das Spiel gegen Neuseeland als eine von wenigen Partien außerhalb Frankreich ausgetragen wurde. Der sensationelle 20:18-Sieg gegen „das Äquivalent Brasiliens im Fußball“, wie man sich während des Spiels ehrwürdig in Pariser Kneipen zuraunte, brachte laut der Zeitung „Sud-Ouest“ eine „Neubelebung des Optimismus, der Hoffnung, der Lust an der Eroberung und am Sieg“.

Vor dem Halbfinale gegen England am Samstag im Stade de France herrscht also wieder heile Welt in „Ovalie“. So nennen die Franzosen das Rugby-Universum in Anspielung an die Form des Balls und als Synonym für die Begeisterung um die Sportart. Die soll möglichst die Ausmaße von 1998 erreichen, nach dem Gewinn der Fußball-WM im eigenen Land.

Der Publikumsliebling wird im Halbfinale jedoch zunächst nichts zu dieser Mission beitragen können. Trainer Laporte nominierte gestern die gleichen zwanzig Spieler wie gegen Neuseeland – Sébastian Chabal steht nicht in der Anfangsformation. Obwohl der schon öfter durch seine Brutalität aufgefallene Chabal also zunächst auf der Bank sitzt, scheint er zumindest der englischen Presse die größte Furcht einzuflößen. „Er könnte den WM-Titel den englischen Händen entreißen“, schreibt die Daily Mail.

Matthias Sander[Paris]

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