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Gedanken an den Titel. Der 43 Jahre alte Gelfand fordert Weltmeister Anand.

© dpa

Schach-WM: Boris Gelfand: Zum Herausforderer gereift

In der Weltrangliste ist Boris Gelfand nur die Nummer 22. Dennoch spielt er jetzt in Moskau gegen Titelverteidiger Viswanathan Anand um die Schach-Weltmeisterschaft.

Das Wort „Interzonenturnier“ wirkt so verstaubt wie das Wort „Sowjetunion“, und tatsächlich gehört es auch in diese vergangene Zeit. Das Wort Interzonenturnier hatte mal einen guten Klang in der Welt des Schachs; jeder Großmeister, der diese Vorausscheidung zur Weltmeisterschaft gewinnen konnte, war hoch angesehen. Im Jahr 1993 endete die alte Tradition, das letzte Interzonenturnier gewann ein junger Weißrusse namens Boris Gelfand – jener Gelfand, der inzwischen Israeli ist und erst jetzt, mit 43 Jahren, erstmals als Herausforderer um den WM-Titel kämpft. Von Freitag an bis Ende Mai spielt Gelfand in der Tretjakow-Galerie, Moskaus berühmtem Kunstmuseum im historischen Stadtteil Samoskworetschje, zwölf Partien gegen den indischen Weltmeister Viswanathan Anand, 42 Jahre alt.

Gelfand gilt dabei als Außenseiter, in der Weltrangliste ist er auf Platz 22 abgerutscht. Außerdem liegt sein letztes großes Erfolgserlebnis gegen Anand in einer Turnierpartie mit bis zu sieben Stunden Bedenkzeit, wie nun in Moskau, schon 19 Jahre zurück: Er besiegte ihn bei besagtem Interzonenturnier in Biel. Die 30 späteren Partien endeten entweder remis oder es gewann Anand (sechs Mal).

Doch Gelfand selbst schätzt die Möglichkeit, der 16. Weltmeister der Schachgeschichte seit 1886 zu werden, keineswegs aussichtslos ein. „Ich denke, die Chancen stehen 50 zu 50.“ Niemand sei unverwundbar. Nebenbei geht es um rund 2,5 Millionen US-Dollar Preisgeld, 1,5 Millionen bekommt der Sieger. Seit Gelfand sich vor einem Jahr als Herausforderer qualifizierte, arbeitete er auf dieses Match hin. Schon vor einem Monat verließ er Rishon LeZion in Israel, wo er seit 1998 lebt, und zog sich mit seinen Sekundanten in einen kleinen Ort in den österreichischen Alpen zurück.

Anand trainierte mit seinem Team wieder – wie schon bei den Titelverteidigungen in den Jahren 2008 und 2010 – im hessischen Bad Soden, wo der in Chennai lebende Inder eine Eigentumswohnung hat. Doch auch hinter Anands sportlicher Verfassung steht ein Fragezeichen. Ungewohnt blass wirkte sein Spiel in jüngster Zeit, in der Weltrangliste fiel er auf Platz vier ab. Neben Magnus Carlsen und Levon Aronjan ist auch sein Vorgänger Wladimir Kramnik an ihm vorbeigezogen. Bei der WM in Bonn 2008 hatte Anand Kramnik überzeugend besiegt; die Titelverteidigung gegen Wesselin Topalow in Sofia 2010 fiel ihm schon schwerer.

Levon Aronjan hat sowohl gegen Anand als auch gegen Gelfand eine positive Bilanz. Dass die Ratingzahlen der beiden abgefallen sind, will der in Berlin lebende Armenier aber nicht überbewerten, dies stehe mit der zurückhaltenden Wahl ihrer Eröffnungen im Zusammenhang. „Natürlich wollen sie vor einer Weltmeisterschaft nicht alle ihre Kronjuwelen zeigen“, sagt Aronjan. „Anand und Gelfand haben es hingekriegt, dieses Match zu bekommen, das heißt, sie sind große Spieler. Ich glaube nicht an Zufälle im Schach.“

Für Wladimir Kramnik sind zwölf Partien ein bisschen wenig, „besser wären mindestens 14 oder 16“. Wer in Moskau die erste Partie gewinne, werde einen ernsthaften Vorteil haben, glaubt der Russe. „Wenn im Fußball, sagen wir, Barcelona gegen Valencia statt 90 Minuten nur 45 Minuten spielt, hängt auch vieles vom ersten Tor ab.“

Eines scheint jetzt schon sicher: Anand wird diesmal vor den Partien keine Anrufe und Tipps von Kramnik erhalten, wie vor zwei Jahren während der WM in Sofia 2010 gegen Topalow. Kramnik hat nicht nur in der Sowjetunion die gleiche tiefgründige schachliche Sozialisation wie Gelfand genossen, er pflegt auch gute Beziehungen zu ihm. Ohnehin gelten Gelfand und Anand als beliebt unter Kollegen. Schmutzige Tricks wie bei manchen früheren WM-Kämpfen sind in Moskau nicht zu erwarten.

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