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Sport: Schau mal, wer da kickt

Die deutsche Gegnerbeobachtung ist so gut, dass sie inzwischen alle kopieren

Beim Deutschen Fußball-Bund war man skeptisch, ob diese Dienstreise wirklich notwendig wäre. Urs Siegenthaler, der Chefscout der Nationalmannschaft, wollte einen Lehrgang des EM-Gruppengegners Polen beobachten. Deren Nationaltrainer Leo Beenhakker hatte kurz vor Weihnachten auf Zypern seinen Perspektivkader versammelt, und es war schon abzusehen, dass es kaum einer der Spieler in den endgültigen Kader für die Europameisterschaft schaffen würde. Siegenthaler reiste trotzdem nach Zypern, und als er den Trainingsplatz der Polen betrat, entdeckte er auf der Tribüne die Beobachter von zwölf weiteren EM-Teilnehmern. „Alle Mannschaften haben sich so gut auf das Turnier vorbereitet wie nie zuvor“, sagt Christopher Clemens von der Firma Mastercoach, die Siegenthaler bei seiner Arbeit für die Nationalmannschaft unterstützt. Mag sein, aber die Deutschen haben’s erfunden.

In der vergangenen Woche ist Siegenthaler zum ersten Mal während des Turniers aus der Anonymität herausgetreten. In einer Loge des Basler St. Jakob-Parks verfolgte er neben dem gesperrten Bundestrainer Joachim Löw das Viertelfinale gegen Portugal. Siegenthaler hat sich fast noch mehr über den Erfolg gefreut als Löw. Vielleicht, weil er diesen Erfolg nötiger brauchte. Der Schweizer drohte schon in den Ruf zu geraten, Löws Fehlerflüsterer zu sein. Mit dem Spiel gegen Portugal hat er sich umfassend rehabilitiert. „Er hat einige wichtige Details beigetragen“, sagte Löw. Vor allem die Umstellung auf das 4-5-1-System entsprang Siegenthalers Anregung.

Bei der WM vor zwei Jahren war der Schweizer so etwas wie die offizielle Geheimwaffe der Deutschen. Vor jedem Spiel wurde explizit auf Siegenthalers Erkenntnisse hingewiesen; in diesen Wochen wird sein Anteil am Projekt Europameisterschaft eher defensiv kommuniziert. Vielleicht, um nicht auch noch den letzten Rest der Welt zur Nachahmung zu animieren. „Er besitzt die Gabe, dass er viele Informationen mitbringt, uns aber nur wenige gibt: eine Schwäche des Gegners, eine Stärke des Gegners“, sagt Löw. „Er schaut aus der Vogelperspektive mit Adleraugen, was sich im Weltfußball tut.“

Der Schweizer knüpft an eine bewährte Tradition an. Einige der größten sportlichen Erfolge der Deutschen sind auf perfekte Gegnerbeobachtung zurückzuführen. Der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 zum Beispiel. Bundestrainer Sepp Herberger hatte den Finalgegner Ungarn, die stärkste Mannschaft jener Zeit, vor dem Turnier dreimal unter die Lupe genommen, unter anderem beim 6:3-Sieg gegen England. Die ganze Welt schwärmte von diesen Ungarn, und auch Herberger war verzückt – weil er gesehen hatte, wie sie zu schlagen sein würden. „Ich hab alles gesehen, was ich sehen wollte“, sagte er. Herberger hatte nicht nur die Schwächen der Ungarn in der Abwehr erkannt, er entwickelte auch eine Taktik, mit der er ihre Offensive lahmlegte. Weil sich Mittelstürmer Hidegkuti immer wieder zurückfallen ließ und den Mittelläufer aus der Abwehr lockte, teilten sich Werner Liebrich und Horst Eckel die Aufgabe.

Heutzutage wird sehr viel mehr Aufwand betrieben, um den Gegner zu entschlüsseln und seine Schwächen zu lokalisieren. Wie schon vor der WM 2006 arbeitet der DFB wieder mit Studenten der Universität Köln zusammen, die umfassende Dossiers erstellt haben. Der Einsatz moderner Mittel ist jedoch nicht neu. Schon Boxer Max Schmeling war in dieser Hinsicht höchst innovativ. Ein halbes Jahr vor seinem WM-Kampf gegen den vermeintlich unschlagbaren Joe Louis reiste er nach New York, und als er nach Deutschland zurückkehrte, hatte er in seinem Gepäck einen Koffer voller Filme von früheren Louis-Kämpfen, die ihm sein Manager unbemerkt besorgt hatte. Schmeling ließ die Filme auf Zeitlupe umkopieren und studierte sie im Vor- und Rücklauf – so lange, bis er die entscheidende Schwäche entdeckt hatte. Jedes Mal, wenn Louis mit seiner Linken einen Haken schlug, ließ er anschließend den Arm kurz und kaum merklich fallen. Am 19. Juni 1936, in der zwölften Runde, erwischte Schmeling seinen Gegner in genau einem solchen Moment mit der Rechten am Kinn. Louis ging k.o., Schmeling triumphierte.

Urs Siegenthaler beobachtet nicht nur die Gegner der Nationalmannschaft; er liefert dem Trainerstab auch Lösungsmöglichkeiten, er gibt Anregungen für die Trainingsgestaltung und ist damit ein wichtiger Faktor im Gesamtkonzept von Joachim Löw. „Er ist unersetzlich für unsere gesamte Entwicklung“, sagt der Bundestrainer. „Wir wissen durch Urs Siegenthaler immer, was auf uns zukommt.“

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