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Gegenüberstellung. Schiedsrichter Manuel Gräfe und Kölns Lukas Podolski beim Freitagsspiel der Bundesliga.

© rtr

Fußball: Schiedsrichter unter Druck

Beschimpft, gehasst und immer in Angst, einen Fehler zu machen. Fußball-Schiedsrichter, das ist ein harter Job – und oft ist er brutal. Das hat vergangenes Wochenende der Fall Rafati wieder bewiesen.

Der Abend beginnt mit Applaus. Heftigem Applaus, er kommt von oben, von den Stehplätzen, wo die Härtesten der Harten sich gerade warm trinken für die bezahlte Wochenendunterhaltung. Einen Augenblick lang freut sich Manuel Gräfe: Geht ja, denkt er, vielleicht haben die Leute doch etwas verstanden, war nicht so einfach in den vergangenen Tagen. Aber dann kommen die Rufe. Rhythmisch und gar nicht so leise, erst: „Anzug-Nazis!“, dann „Steuerbetrüger!“, und auf einmal klingt der Applaus anders.

Seid ihr doch wieder da? Traut ihr euch wirklich noch?

Der Fußballschiedsrichter Manuel Gräfe hat sich nicht wirklich gefreut auf diesen Abend in Köln. Auf das Spiel zwischen den traditionell verfeindeten Klubs 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach. Erste Bundesliga, 50.000 Zuschauer, natürlich ist das Stadion ausverkauft. So wie vor einer Woche, als Köln gegen Mainz spielen sollte. Die Trainer hatten ihre Ansprachen gehalten, die Mannschaften waren bereit. Einer fehlte. Einer, den Fußballfans eher selten vermissen und dessen Existenz ihnen im besten Fall egal ist. Aber ohne ihn ist auch im dritten Jahrtausend kein Fußballspiel möglich, und selten ist das einer größeren Öffentlichkeit auf so dramatische Weise klar geworden wie vor einer Woche.

Am Tag, als in Köln nicht Fußball gespielt wurde, weil der Schiedsrichter Babak Rafati in seinem Hotelzimmer lag und von seinen Assistenten wiederbelebt werden musste.

Es ist nicht leicht in diesen Tagen, Schiedsrichter zu sein. Alle wissen es besser, alle können es besser, in der Fankurve im Stadion und vor dem Fernseher sowieso. Der Skandal um den betrügerischen Schiedsrichter Robert Hoyzer, der homoerotische Rosenkrieg um die ehemaligen Schiedsrichter Manfred Amerell und Michael Kempter sowie die Affäre um vermeintliche Steuerbetrügereien haben dem Ansehen eines gesamten Berufsstandes schweren Schaden zugefügt. Im öffentlichen Ansehen stehen Schiedsrichter knapp vor Lehrern und Polizisten. Das hat Spuren hinterlassen, vor allem bei denen, über die so viel und so unwidersprochen geredet wurde.

Ein Bundesligaspiel beginnt für Manuel Gräfe nicht erst mit dem Einlaufen vor dem traditionell feindseligen Publikum. Ein paar Tage vor dem Spiel hat er aus der Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) die Ansetzung bekommen. Köln. Ausgerechnet Köln, wo Babak Rafati eigentlich pfeifen sollte. Einem Automatismus folgend hatte der DFB ihn und sein Team für dasselbe Hotel gebucht, in dem auch Rafati sich auf sein Spiel vorbereitet hatte. Dasselbe Zimmer…? Gräfe sagt, er habe das erst einmal sacken lassen, aber dann hat er das Hotel umbuchen lassen und sich auf seinen Einsatz vorbereitet. Einer muss es ja machen, und irgendwie ist es ja auch ein Kompliment, dass der DFB ihm die Leitung dieses hoch sensiblen Spiels anvertraut hat.

Manuel Gräfe, 38, wurde in diesem Jahr zu „Deutschlands Schiedsrichter des Jahres“ gewählt. Mit seinen knapp zwei Metern verfügt er über eine Respekt gebietende Statur und dazu über einen gewissen Erfahrungsschatz, was sensible Situationen betrifft. Vor bald acht Jahren, er war gerade aufgestiegen in die Bundesliga, machte Gräfe gemeinsam mit drei weiteren Berliner Kollegen den DFB auf gewisse Seltsamkeiten eines Kollegen aufmerksam. Der Kollege hieß Robert Hoyzer, und es stellte sich heraus, dass er Spiele für Geld verpfiffen hatte.

Von dieser Vertrauenskrise haben sich die deutschen Schiedsrichter bis heute nicht erholt. Wirklich beliebt waren sie noch nie, das größtmögliche Kompliment bestand schon immer darin, sie gar nicht erst zu erwähnen. Auch Spieler, Trainer und Manager werden kritisiert, beschimpft, ausgepfiffen. Aber auch gefeiert und geliebt. Wer feiert, wer liebt einen Schiedsrichter? „Wir kennen doch fast nur negative Emotionen“, sagt Manuel Gräfe, und irgendwie hätten er und seine Kollegen schon damit gerechnet, „dass mal was passieren würde. Der Druck ist immer größer geworden.“

Für Babak Rafati war er so groß, dass er nicht mehr weiterleben wollte.

Manuel Gräfe war zu Hause in Berlin, als ein Freund anrief und die Geschichte erzählte, von der er erst nicht glauben wollte, dass sie wahr sein konnte. „Natürlich kannst du dir so etwas bei keinem vorstellen, du willst es dir ja auch nicht vorstellen. Aber ausgerechnet Babak … Ein so lustiger Kollege, ein so starker Mensch.“ Ein paar Wochen zuvor hatten sie in Zagreb zusammengesessen, nach einem Spiel in der Champions League. Die Spielleitung war nicht weiter problematisch, aber die ganze Nacht noch redeten sie über die veränderten Anforderungen eines Jobs, der längst mehr ist als ein Hobby. Am Ende waren sie sich einig, dass in nächster Zukunft mal ein Kollege aufgeben werde. „Aber doch nicht so …“ Gräfe hat nicht im Traum daran gedacht, dass Rafati von sich selbst reden könnte. Von seinen Depressionen, von dem Druck „in Kombination mit der ständigen Angst, Fehler zu machen“. So hat es Babak Rafati am Freitag über seinen Anwalt ausrichten lassen.

Druck ist ein schwer zu greifendes Phänomen. Alles eine Frage der Konstitution, sagen Hobbypsychologen. Zum Beispiel Markus Merk, er zählte früher selbst zu den weltbesten Schiedsrichtern, und seine Reaktion auf Rafatis Suizidversuch reduziert sich auf die Forderung, man solle die Schiedsrichter jetzt bloß nicht in Watte packen: „Es ist ein Privileg, Bundesliga zu pfeifen. Wer es nach da oben geschafft hat, braucht kein Mitleid.“

Das ist selbstverständlich richtig und hätte vielleicht doch einiger Anmerkungen bedurft aus der Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes. Dessen Präsident Theo Zwanziger aber ist seit Monaten vor allem mit der Inszenierung seiner selbst beschäftigt, wozu ihm die Schiedsrichter mal mehr, mal weniger zuträglich sind. In der Angelegenheit Kempter-Amerell kämpfte Zwanziger öffentlichkeitswirksam gegen Homophobie, in der schwer durchschaubaren Steueraffäre profilierte er sich mittels den Schiedsrichtern abverlangter Führungszeugnisse und Schufa-Erklärungen als Kämpfer wider die Korruption. Und als vor einer Woche Babak Rafati seinem Leben ein Ende setzen wollte, eilte der Präsident zu einer spontan einberufenen Pressekonferenz, auf der er ungefragt über Abschiedsnotizen und Blut in der Badewanne referierte.

Wer kann schon nachempfinden, wie es ist, von 50 000 Zuschauern ausgepfiffen, verachtet, ja gehasst zu werden? Und wen interessiert es überhaupt? Der Gladbacher Trainer Lucien Favre erzählt, er habe mal aus Spaß im Training gepfiffen, „es war eine Katastrophe“. Und: „Als Schiedsrichter bis du der ärmste Mann auf dem Platz. Alle hast du gegen dich: die Spieler, das Publikum und zwei dumme Trainer.“ Mit dieser Sichtweise steht der Schweizer weitgehend allein. Die Mehrzahl seiner Kollegen hält es mit dem Berliner Trainer Markus Babbel, der zum Fall Rafati den erhellenden Satz formulierte: „Wer das auf dem Platz nicht verträgt – es gilt ja freie Berufswahl!“

Warum hören Sie nicht einfach auf, Herr Gräfe?

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Manuel Gräfe nicht einfach aufhört mit seiner Karriere als Fußball-Schiedsrichter.

Schiedsrichter Florian Meyer (l.) im Dialog mit dem Schalker Verteidiger Christian Fuchs.
Schiedsrichter Florian Meyer (l.) im Dialog mit dem Schalker Verteidiger Christian Fuchs.

© dapd

Warum hören Sie nicht einfach auf, Herr Gräfe?

Gute Frage, sagt Manuel Gräfe und sucht eine Antwort, sie unterscheidet sich nicht sehr von denen, die seine gehässigsten Kritiker oben auf den Stehplätzen geben würden: „Fußball ist mein Lieblingssport, und mir machen alle Facetten davon Spaß“, und vielleicht treffe es der Slogan eines Privatsenders am besten: „Als Schiedsrichter bist du mittendrin und nicht nur dabei.“ Sie haben lange und hart gearbeitet für diese Position. Unzählige Wochenenden sind dabei draufgegangen. Markus Häcker begleitet Gräfe seit gut zehn Jahren als Assistent und will keines dieser Jahre missen. „Ich habe etwas erreicht, was ganz wenige im Fußball erreichen“, sagt Häcker. „Das kann ich doch jetzt nicht einfach aufgeben!“

Ist es das Geld? Die Zeiten, in denen der Job mit der Pfeife mit Händedruck, Abendessen und Hundertmarkschein entgolten wurde, sind vorbei. Ein Spitzenschiedsrichter kommt in Deutschland auf ein jährliches Einkommen von 120 000 Euro, Assistenten auf die Hälfte. Aber alle sind sie bestenfalls Halbprofis und stehen parallel zur Schiedsrichterei im Berufsleben.

Zum Beispiel Markus Häcker. Er arbeitet im Kataster- und Vermessungsamt in Waren an der Müritz. Öffentlicher Dienst, sehr verständnisvolle Kollegen, nie hat es Probleme gegeben mit der Freistellung für seine Fußballreisen. Aber er hat seine Arbeitszeit auf 30 Wochenstunden reduziert, nimmt öfter unbezahlten Urlaub, und die Chancen auf einen leitenden Posten sind gleich null. Häcker ist erst 37 Jahre alt und doch am Ende der beruflichen Karriereleiter angelangt. „Jetzt rechnen Sie das mal hoch, auch auf meine Rentenansprüche. Ja, die Schiedsrichterei wird anständig bezahlt, aber am Ende zahle ich drauf.“

Am Freitag in Köln ist Markus Häcker der Angespannteste im angespannten Schiedsrichterteam. Es lässt sich nicht gut an. Der Shuttlebus mit dem Schiedsrichterteam quält sich eine gute Stunde lang durch die verstopften Straßen. Bloß nicht zu spät kommen. Vor ein paar Wochen hat Manuel Gräfe in Stuttgart gepfiffen. Es ging gegen den Deutschen Meister aus Dortmund, der sich nicht weiter um die Verkehrsmeldungen scherte und plötzlich im Stau stand, so dass das Spiel mit Verspätung begann. Das verträgt sich nicht unbedingt mit höchsten professionellen Ansprüchen, aber Dortmunds Trainer Jürgen Klopp moserte später über die unflexible Polizei, die keine Eskorte geschickt hatte. Und über den Schiedsrichter, der ihm einen möglichen Elfmeter verweigert hatte, „unglaublich, so kann das nicht weitergehen, immer gegen uns“.

In Köln sind die Schiedsrichter wie immer zweieinhalb Stunden vor Spielbeginn losgefahren und treffen zeitgleich mit dem Kölner Mannschaftsbus ein. Schon beim Auflaufen registriert Gräfe, wie ihm die Spieler in die Augen schauen, ein paar von ihnen fragen: „Habt ihr das verdaut mit Rafati? Alles okay?“ Schwierig zu beurteilen, wie viel wirkliche Anteilnahme darin liegt oder ob die Spieler den Schiedsrichter nicht einfach nur scannen wollen wie ein Psychiater seinen Patienten. Ist er angeschlagen? Können wir ihn in die Tasche stecken? Ein Kölner sagt zu Gräfe: „Blöde Sache mit Rafati, jetzt sind alle ganz betroffen, aber ihr wisst doch, dass in drei Wochen alles wieder so ist wie früher.“

Oft entscheidet sich schon in den ersten Minuten, in welche Richtung sich ein Fußballspiel entwickelt. Fußball ist ein millionenschweres Geschäft, und an einem Abend sind es meist Winzigkeiten, die den Unterschied machen. Der Schiedsrichter ist Teil des Spiels, und wer ihn beeinflussen kann, beeinflusst auch das Spiel. Ein guter Schiedsrichter verwaltet nicht nur. Er gibt den Spielern ein Zeichen: Ich bin hier der Chef, wir spielen nach den Regeln, die ich zwar nicht aufgestellt habe, aber deren Einhaltung ich überwache.

Schon nach ein paar Minuten rammt der Kölner Volksheld Lukas Podolski einen Gladbacher Verteidiger an der Außenlinie, er dreht unschuldsheischend ab, aber Gräfes Ansage ist deutlich: „Podolski! Nicht noch mal! Der Ball war längst gespielt!“ Keine Gelbe Karte, kein Anbiedern. Podolski weiß Bescheid, und seine Kollegen wissen es nach zwei, drei weiteren Minuten auch. Gladbach schießt zwei schnelle Tore, der Kölner Widerstand ist gebrochen, das Publikum ergibt sich. Es werden 90 angespannte, aber überraschend problemlose Minuten.

Die Schiedsrichter verlassen als Erste den Rasen, noch vor den Kölnern und lange vor den Gladbachern, sie feiern ihren 3:0-Sieg gemeinsam mit den Fans in der Kurve. Der Abend hat mit hässlichem Applaus begonnen, und er endet mit angenehmem Desinteresse. Ein Abend, an dem man nicht über sie redet, ist ein guter Abend für die Schiedsrichter. Für Manuel Gräfe hat er wieder mal den unschlagbaren Beweis gebracht dafür, dass Aufhören keine Lösung ist. „Alle können nicht aufhören“, sagt sein Assistent Häcker. „Es müssen immer neun übrig bleiben.“

Neun Bundesliga-Schiedsrichter für neun Bundesligaspiele für 18 Bundesligamannschaften. Dieses und nächstes und jedes Wochenende.

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