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Sieht ziemlich ungesund aus - nach dreifachem Bänderriss-, wirkt aber.

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Wales bei der EM 2016: Schießen wie Gareth Bale ist moderne Kunst

Gareth Bale hat bei dieser EM zwei Freistöße verwandelt – mit einer speziellen Technik. Um so schießen zu können, braucht es jahrelange Übung und einiges an Besessenheit.

Ein bisschen surreal ist das schon, sagt Gareth Bale über seinen derzeitigen Aufenthaltsort. „Immer wenn ein großes Turnier anstand, habe ich zu Hause vor dem Fernseher gesessen. Selbst dabei zu sein, ist einfach unglaublich.“

Einfach unglaublich, ja ein bisschen surreal ist auch, was Bale in diesen ersten Turniertagen veranstaltet hat auf der großen Bühne Fußball-EM. Und damit sind nicht die Ergebnisse gemeint, zu denen er die walisische Mannschaft geführt hat. Ein Sieg gegen die Slowakei (2:1), eine unglückliche Niederlage gegen England (1:2) und die Chance, mit einem positiven Resultat im abschließenden Gruppenspiel gegen Russland an diesem Montag das Achtelfinale erreichen zu können, sind aller Ehren wert. Wirklich herausragend aber war Gareth Bale. Zwei von drei Turniertreffern der Waliser hat er geschossen, beide auf die gleiche Art und Weise. Beide per Freistoß. Zuerst gegen die Slowakei, dann noch gegen England.

Als Form moderner Kunst

Wobei Freistoß hier nur als schnöder Versuch einer Gattungseinordnung gelten kann. Viel zu gewöhnlich für das, was der 26 -Jährige da veranstaltet. Freistöße schießt auch Eugen Polanski. Oder Konstantin Rausch. Bale interpretiert sie als Form moderner Kunst.

Die Technik, mit der er ruhende Bälle aufs Tor bringt, ist besonders. Das geht schon beim Anlauf los. Vier große Schritte läuft er von dem Punkt, wo der Ball liegt, zurück. So, als würde er wie beim Freizeitkick im Park den Elfmeterpunkt abschreiten, nur eben rückwärts. Noch ein Schritt seitlich, breitbeinige Revolverheldenstellung, dann beginnt die eigentliche Show. Bale läuft beim Anlauf eine Kurve, macht sich kurz klein, nur um aus dieser Haltung den Oberkörper nach vorn schnellen zu lassen und ihn mit voller Kraft über den Ball zu bringen. Den trifft er beim Schuss zwischen Spann und Innenrist, das Standbein schwingt kaum nach, sondern knickt ab. Das sieht schlimm aus, nach dreifachem Bänderriss, mindestens, führt aber zu einer speziellen Flugkurve.

Der Ball steigt zuerst hoch in die Luft, um problemlos über die Mauer zu fliegen. Dann senkt er sich plötzlich wie ein Stein, beginnt dabei aber zu flattern wie ein Luftballon. Dem gegnerischen Torwart wird es beinahe unmöglich, die exakte Flugbahn zu berechnen. Heraus kommen Tore, die nach Torwartfehler aussehen, in Wirklichkeit aber nur sehr schwer zu verhindern sind.

Tägliche Arbeit über Monate und Jahre

Wie kommt jemand dazu, so zu schießen? Ein Anruf bei einem, der es wissen könnte. Bernd Schneider, Deutschlands bester Freistoßschütze dieses Jahrtausends. Einst trat er den Ball mit so viel Effet, dass er den Spitznamen Schnix verpasst bekam. Also Herr Schnix, äh, Schneider, wie lange muss ein Spieler üben, um so schießen zu können? „Sehr lange“, sagt Schneider, der inzwischen wieder in Jena lebt und für eine Fußballagentur arbeitet. „Das ist keine Sache von Wochen, sondern von täglicher Arbeit über Monate und Jahre.“

Der will nur fliegen. Bale schickt einen Freistoß auf die Reise.

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Tatsächlich feilt Bale seit langer Zeit an seiner Schusstechnik. Immer auf der Suche nach dem perfekten Schuss, wie er einem englischen Reporter mal erzählte. Inspiriert von Cristiano Ronaldo, seinem Mitspieler bei Real Madrid, übt Bale nach dem Training täglich Freistöße. Ronaldo war der Erste, der begann, so Freistöße zu schießen. Nur trifft er den Ball weiter vorn und ausschließlich mit dem Spann. Seine Schüsse sind härter, allerdings mit dem höheren Risiko behaftet, nicht rechtzeitig hoch genug über die Mauer zu kommen, was bei dieser EM mehrfach zu beobachten war. Ronaldo hat von seinen 34 Versuchen keinen einzigen verwandelt, Bales Quote steht bei zwei von drei.

Ein halber Zentimeter kann entscheidend sein

Seinen Trainingspartner hat der Waliser in Sachen Effektivität überholt und es gibt nicht wenige, die Bale inzwischen für den besseren Freistoßschützen halten. Nur darf er das in Madrid aufgrund der mannschaftsinternen Hierarchie selten zeigen. Anders als bei Wales, wo Bale der unumstrittene Chef ist.

Trainingseinheiten finden in Spanien stets hinter verschlossenen Mauern statt, erst recht bei Real Madrid, aber nach allem, was nach außen dringt, soll Bale mit einer obsessiven Leidenschaft an seiner Technik arbeiten. „Anders wäre das auch gar nicht zu schaffen“, sagt Schneider. „Bei dieser Art von Schuss müssen so viele Einzelfaktoren zusammenpassen. Es geht um den richtigen Treffpunkt des Balles, die Fußstellung, die Körperhaltung – wenn ein Faktor nicht stimmt, fliegt der Ball nicht so, wie man es will.“ Ein halber Zentimeter könne da schon entscheidend sein, sagt Schneider.

Wäre er je auf den Gedanken gekommen, so zu schießen? „Nein“, sagt Schneider, „das ist schon sehr speziell. Es gibt nur ganz wenige Fußballer auf der Welt, die dazu in der Lage sind.“ Ein größeres Lob als aus dem Mund eines anerkannten Freistoßvirtuosen ist kaum möglich.

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