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Sport: Schritte eines Riesen

Wie Alessandro Zanardi an diesem sonnendurchfluteten Nachmittag noch etwas ungelenk am Steg entlang läuft, wo Luxusyachten Winterschlaf halten, grenzt an ein Wunder. Der 35-Jährige geniert sich nicht zu demonstrieren, dass er mittlerweile ohne fremde Hilfe gehen kann.

Wie Alessandro Zanardi an diesem sonnendurchfluteten Nachmittag noch etwas ungelenk am Steg entlang läuft, wo Luxusyachten Winterschlaf halten, grenzt an ein Wunder. Der 35-Jährige geniert sich nicht zu demonstrieren, dass er mittlerweile ohne fremde Hilfe gehen kann. Zanardi geht unaufhörlich hin und her, als wollte er sämtliche Zweifel ausräumen. Der Mann hat einen unerschütterlichen Willen. "Ho fatto passi da gigante", sagt er. "Ich habe die Schritte eines Riesen gemacht." Seine Rehabilitation habe riesige Fortschritte gemacht. Die Selbstironie ist unverkennbar, als er unvermittelt hinzufügt: "Ich bin so aufgeregt, dass mir die Beine zittern."

Der Tag, an dem sich Zanardis Leben dramatisch änderte, war ein Arbeitstag wie so viele andere zuvor. Es ist der 15. September 2001. Der Cart-Fahrer Alessandro Zanardi sitzt in seinem Reynard-Honda und geht, wie so oft, auch auf dem Eurospeedway Lausitz an die Grenze seines Könnens. Der zweimalige US-Cart-Champion hat gerade einen Boxenstopp absolviert. Zwölf Runden sind noch in diesem Rennen, das eine Europapremiere ist, zu absolvieren. Kurz nach der Ausfahrt aus der Boxengasse dreht sich Zanardi mit seinem Boliden auf der Rennstrecke - wahrscheinlich aufgrund eines verhängnisvollen Fahrfehlers. Mit etwa 320 Kilometern pro Stunde rast der nachfolgende Kanadier Alex Tagliani in Zanardis Auto. Der Bolide wird in zwei Teile gerissen. Tagliani kommt mit leichten Prellungen davon, Zanardi dagegen mussten später beide Beine oberhalb des Knies amputiert werden. Dass er überhaupt überlebt, verdankt er der exzellenten Erstversorgung der beiden Rennärzte. Im Klinikum Berlin-Marzahn halten die Ärzte ihn mehrere Tage im künstlichen Koma.

Zanardi ist stolz darauf, dass er jetzt, ein halbes Jahr später, wieder aufrecht stehen kann, auch wenn er sich mit zwei Gehstöcken behilft und die Prothese noch schmerzt. Doch er hat es in diesen wenigen Monaten gelernt, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Von heute auf morgen ohne Beine leben zu müssen, hat ihn kaum verändert. Seine Rehabilitation umschreibt er so: "Es ist, als wäre ich in einem Aufzug. Mal geht es aufwärts, mal geht es abwärts." Doch es sei ja schon großartig, dass er überhaupt noch am Leben ist. Ein Traum beherrscht das neue Leben des Alessandro Zanardi. Irgendwann einmal möchte er seinen kleinen Sohn Niccolò auf den Schultern tragen. So weit ist er noch nicht. "Aber ich arbeite daran."

Zanardi, der in Monte Carlo lebt, hat durch den Unfall einen anderen Blick auf die Welt. "Ich schätze viel mehr den Wert jeder einzelnen Sache, und mir ist bewusst, dass das alles mit einem Wimpernschlag vorbei sein kann." Von Zanardis vorbildhafter Größe ist nun in den Zeitungen zu lesen, wenn sie über den einstigen Formel-1-Piloten und Teamkollegen von Ralf Schumacher bei Williams-Supertec, berichten. Der Italiener gibt zu, dass ihn manchmal Neid überkommt, aber er spricht das Wort nicht direkt aus. Wann er Neidgefühle hegt? "Es tut mir in der Seele weh, wenn ich Leute sehe, die joggen oder ihre Kinder auf den Schultern tragen. Das kann ich nicht machen", sagt er. "Es gibt Momente, in denen mich das Selbstmitleid überkommt, weil die Dinge nicht jene Wendung nehmen, die ich möchte."

Zanardi kann wieder Auto fahren, und er schließt nicht einmal aus, dass er irgendwann wieder Rennen fährt. Vielleicht in der Tourenwagenmeisterschaft, in einem Spezialfahrzeug. Zanardi - der unverbesserliche Draufgänger? Nein, sicherlich nicht. Er wäre auch nicht unglücklich, wenn es nicht dazu käme. "Ich kann mich nämlich entspannt zurücklehnen und mit dem zufrieden sein, was ich bislang erreicht habe." In Phasen wie diesen sprüht er wieder vor Witz und Lebensmut. Es gibt aber auch Momente, in denen ein bisschen Resignation aus seinen Worten herauszuhören ist. "Ich bin natürlich nicht glücklich über meine Situation. Ich kann nicht sagen, dass das der Traum meines Lebens war. Aber ich muss damit leben", sagt er mit seinem gewohnten Lächeln. "Ich bin jedoch glücklich, noch auf dieser Welt zu sein. Ich hätte auch nicht mehr hier sein können."

Alessandro Zanardi hat schon wieder Pläne: Am 21. September wird er den Startschuss geben - zum nächsten Cart-Rennen am Eurospeedway.

Vincenzo Delle Donne

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