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Selbstversuch: Im Blindflug

Sehbehinderte Alpinskifahrer rasen mit 120 Stundenkilometern die Piste runter. Wie geht das bloß? Schülerin Leonie Arzberger (18) ließ sich die Augen verbinden.

Ich höre das scharfe Kratzen von Skikanten neben mir. Oder vielleicht doch hinter mir? Während meine Muskeln vor Unsicherheit zu Beton erstarrt sind, erfordert jede noch so kleine Bewegung talabwärts unglaubliche Überwindung. Ich fühle mich verloren zwischen all den Geräuschen, die ich nicht zuordnen kann und die mir nicht verraten wollen, wo ich bin.

Ich war in der Schweiz. Auf einer kleinen Piste, die so flach war, dass ich unter normalen Umständen darüber geschimpft hätte. Doch diesmal stand ich zum ersten Mal auf meinen Ski, ohne etwas zu sehen. Meine Augen waren unter der Brille mit einem Tuch verbunden. Ich fühlte mich wie beim Topfschlagen im Kindergarten. Dabei wollte ich nur wissen, wie es ist, blind Ski zu fahren – mein persönlicher Selbstversuch zu den Paralympics 2010.

Seit diesem Erlebnis ist meine Bewunderung für alle sehbehinderten Abfahrtsläufer unbeschreiblich groß. Auch für Gerd Gradwohl. Er ist der einzige Deutsche, der in der sehbehinderten Klasse der alpinen Wettkämpfe bei den Paralympics startet. Der Physiotherapeut aus Kempten „will zeigen, dass es geht!“. So nimmt er, trotz eines Beinbruchs im vergangenen Sommer und des daher lange ausfallenden Trainings, in Vancouver teil. Es ist ihm wichtig, auf den Sport aufmerksam zu machen, da er der erste und bisher einzige sehbehinderte Alpinskifahrer auf Leistungsebene in ganz Deutschland ist.

Meine Augen waren unter der Brille mit einem Tuch verbunden

Dabei gibt es bereits seit den ersten paralympischen Winterspielen in Schweden 1976 Skirennen für Sehbehinderte. Doch gerade im Vergleich zu Spanien und der Slowakei fällt auf, wie gering das Bewusstsein für diese Sportmöglichkeit hierzulande ist. Dies beklagt auch Gerd Gradwohl, da es seiner Meinung nach in Deutschland zwar eine sehr gute Infrastruktur für den Sport gäbe, es aber leider dennoch an Nachwuchs fehle.

Der fünfzigjährige Paralympicssieger hat selbst lange gegen Vorurteile kämpfen müssen. Während er fast zwei Jahre lang auf der Suche nach einer Möglichkeit war, Skisport zu betreiben, – er hatte erfahren, dass es dieses Angebot für Blinde bereits weltweit gab – musste er sich von Vereinen und Sportfunktionären immer wieder anhören, dass dies viel zu gefährlich sei und wie verrückt es doch sei, so etwas ausprobieren zu wollen.

Dass diese Argumentation auf mangelnden Informationen beruhte, zeigt sich bei der näheren Betrachtung des Reglements und der offiziellen Bedingungen für diesen Sport. Grundsätzlich werden die sehgeschädigten Athleten dem Grad ihrer Behinderung nach in drei Startklassen eingeteilt: Total sehbehindert und sehbehindert mit wenig oder eben mehr Restsehvermögen. Innerhalb aller drei Klassen ist der Begleitläufer der wichtigste Faktor für den Sportler. Diese Person fährt unmittelbar vor dem Blinden und navigiert so seinen Partner entweder auf Zuruf oder der Skifahrer folgt den noch erkennbaren Schemen seines Begleitläufers. Der zweite Fall trifft auch auf Gerd Gradwohl zu, dessen Sehvermögen erst seit einer genetisch bedingten Erkrankung Mitte der neunziger Jahre stark eingeschränkt ist. Mit seinem Restsehvermögen von weniger als fünf Prozent kann er so seinem Guide Karl-Heinz Vachenauer, mit dem er seit 2006 zusammen trainiert, durch die Tore aller Abfahrtsdisziplinen folgen. Diese Situation beschreibt er gerne mit „einer Fahrt durch dichten Nebel“.

Geschwindigkeiten von bis zu 120 km/h

Auch werden die Rennstrecken an die behinderten Sportler angepasst. So findet zum Beispiel die Abfahrt der Herren bei den Paralympics in Vancouver auf der olympischen Super G-Strecke der Damen statt, da dort unter anderem die Sprungstellen weniger gefährlich ausgebaut sind. Und doch sind sie blitzschnell. Bei Geschwindigkeiten von bis zu 120 km/h stehen visuell beeinträchtigte Skifahrer den anderen behinderten Skisportlern um nichts nach. Durch viel Übung muss das Vertrauen zum Begleitläufer aufgebaut werden und sich ein sehr feiner Tiefensinn entwickeln. Leider ist es sehr schwer, einen geeigneten Begleitläufer auf professioneller Ebene zu finden, da dieser nicht nur Begeisterung, sondern auch Zeit und Geld mitbringen muss. Schließlich wird man für den hohen Zeitaufwand der Trainingseinheiten oder der Rennen nur minimal finanziell unterstützt.

Obwohl ich zwei hervorragende Begleitläufer hatte, war mein Selbstversuch wenig glanzvoll. Ich schob mich verloren über den Schnee, verzweifelt ratend, ab wo es wieder bergab geht. Mir nahm das Tuch vor meinen Augen vom ersten Moment an meinen sonst so verlässlichen Gleichgewichtssinn und der Pflugbogen gewann an diesem strahlend schönen Tag eine ganz neue Bedeutung für mich.

Leonie Arzberger

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