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Da ist das Ding. Lothar Matthäus fiel mit dem Pokal in der Hand ein typischer Matthäus-Witz ein.

© promo

Sepp Maiers Film über die WM 1990: Ein italienischer Sommer

Sepp Maier hat den deutschen WM-Triumph 1990 mit einer Videokamera begleitet. Seine spektakulären Aufnahmen kommen jetzt im Rahmen des Fußballfilmfestivals 11 mm ins Kino.

Kurz vor Schluss kommt die hohe Politik ins Spiel. Am linken Bildrand und nur für ein paar Sekunden, aber dennoch unübersehbar und dominant. Die hohe Politik trägt einen dunkelgrauen Anzug, Breitrandbrille und das Haar etwas breiter gescheitelt. Die hohe Politik lacht ein wenig verschämt, wahrscheinlich ist es ihr nicht recht, dass die Kamera dabei ist, aber sie ist an diesem Abend nur zu Gast und kann ausnahmsweise nicht die Spielregeln bestimmen. Also schwenkt Helmut Kohl einen Pappbecher mit dem roten Logo eines Braunbrausefabrikanten, und dann ist er auch schon weg. Die Party kann beginnen.

Rom, am 8. Juli 1990, irgendwo in den Katakomben des Stadio Olimpico. Die deutsche Nationalmannschaft hat gerade das Endspiel um die Weltmeisterschaft gewonnen. 1:0 gegen eine vom großen Diego Maradona angeführte Mannschaft wüst um sich tretender Argentinier, sie haben das Spiel nach zwei Platzverweisen zu neunt beendet. In der deutschen Kabine tanzen, lärmen und saufen zwei Dutzend junge Männer um den Bundeskanzler herum.

"Da war er noch schlank", erzählt Sepp Maier dem Magazin "11Freunde". Für Maier und seinen Münchner Spezi Franz Beckenbauer schließt sich an diesem Abend ein Kreis. Beide haben 16 Jahre zuvor schon in kurzen Hosen die Weltmeisterschaft gewonnen. Jetzt gibt Beckenbauer einen Teamchef, der seine nicht überirdisch begabten Eleven quasi durch Handauflegen zu höchsten Weihen führt. Maier betreut im Nebenjob die Torhüter. Seine eigentliche Erfüllung findet er in diesen Wochen von Mailand, Rom und Turin als Filmschaffender. Sepp Maier ist Kameramann, Regisseur und Produzent eines Filmchens, das zur Eröffnung des Berliner Fußballfilmfestivals "11 mm" am 9. März seine Weltpremiere erleben wird.

Verschlossene Türen gab es für ihn nicht und Tabus genauso wenig. Gedreht hat er mit seiner privaten Videokamera. Lange bevor Sönke Wortmann in offizieller Mission auf dieselbe Idee kam und die WM 2006 als deutsches Sommermärchen inszenierte. In Hotel, Bus und Kabine – Maier war immer dabei, und weil er seit Jahren ohnehin immer dabei war, nahmen die Spieler seine Kamera kaum zur Kenntnis. Das garantiert mehr Authentizität, als der Externe Wortmann je hätte bieten konnte. Nur einmal hat der Bundestrainer die Kamera in der Tasche gelassen. Das war nach dem Viertelfinale, einem uninspiriert hingegurkten 1:0 über früh dezimierte Tschechen. Beckenbauer war auf 180, "er schmiss Schuhkoffer und Getränkedosen durch die Gegend", erzählt Maier. "Wenn ich da gefilmt hätte, er hätte mir die Kamera aus der Hand geschlagen."

"We are the Champions" ist ein Zeitdokument von bemerkenswerter Qualität. Was bunte Fallschirmseidenkluft der Nationalspieler, ihre Sanges- und Tanzkünste betrifft, aber auch das Verhältnis von kickenden und regierenden Staatsdienern. Wo die Nation große Feste begeht, drängt auch die hohe Politik ins Bild. Schon 1986 hatte sich Helmut Kohl in Mexiko auf das Jubelfoto neben Diego Maradona gedrängt. Für seine späte Nachfolgerin Angela Merkel reichte es im Herbst 2010 in Berlin immerhin zu einer fotografisch dokumentierten Kabinenbegegnung mit dem halbnackten Mesut Özil.

Für 1000 Mark gab es die entführten Bänder zurück

1990 gibt es noch keine Nationalspieler mit Migrationshintergrund. Die Deutschen erfreuen sich auch so übernationaler Beliebtheit. Zur Anfahrt des Mannschaftsbusses Richtung Stadion schmückt sich Rom mit ungezählten deutschen Fahnen. Nur hier und da weht die Albiceleste des Endspielgegners. Die Argentinier haben im Halbfinale die Italiener ausgeschaltet, was ihre Popularität ein wenig mindert.

Die aufregendsten Szenen des langweiligen Spiels fängt Maier fast ganz ohne Fußball ein. Im Gedränge auf der Ersatzbank, es läuft schon die Nachspielzeit. Auf dem Rasen versuchen die Deutschen, ihren Vorsprung über die Zeit zu verwalten, draußen zittern und brüllen sie, es muss doch irgendwann vorbei sein. Es ist kein Pfiff zu hören, nur eine Kakophonie aus kehligen, dumpfen Urschreien, sie dokumentiert deutlich, dass jetzt wohl Schluss ist. Weiter zur Ehrenrunde, auf der Tribüne verteilt ein junger und schlanker Joseph Blatter Medaillen, und natürlich darf Beckenbauers somnambuler Spaziergang über den verwaisten Rasen nicht fehlen. Der Regisseur Maier unterlegt die Feierlichkeiten mit "One Moment in Time", was im Februar 2012 ein wenig geschmacklos wird, aber im Sommer 1990 stand Whitney Houston noch in der Blüte ihres Lebens.

Auch in der Kabine läuft natürlich Musik, die Weltmeister werkeln am Stadionbeschallungsprogramm für die kommenden Jahre. Vom reichlich aus Plastikbechern konsumierten Champagner besäuselt grölen sie: "Wir wollen einen heben", "Und wir haben den Pokal!" und, natürlich, "We are the Champions!" All die Scheußlichkeiten, die heute bei Länder- und Pokalendspielen als Medley über die Lautsprecheranlage dröhnen. Wahrscheinlich hat Sepp Maier einen Mitschnitt meistbietend unter Musikverlegern versteigert.

Alle dürfen sie den WM-Pokal halten, der nackte Lothar Matthäus hält ihn vor sein Gemächt und vollführt dazu Bewegungen wie Elvis Presley einst auf der Bühne. Sehr viel zurückhaltendere, aber doch sehr innige Behandlung erfährt der Pokal vom Bremer Günter Hermann, er ist bis heute eine Berühmtheit als Weltmeister ohne eine einzige Einsatzminute. Die Kamera folgt den nackten Spielern unter die Dusche, und wenn der Jugendschutz in Gefahr ist, blendet Maier einen stilisierten Minipokal über allzu nackte Tatsachen. Bei Pierre Littbarski kann nichts passieren, denn er seift sich in Trikot und Hose ein.

Maiers Regiedebüt endet mit den Feierlichkeiten daheim, sie werden vor dem Frankfurter Römer zelebriert und noch nicht vor dem Brandenburger Tor. Im Sommer 1990 gibt es noch eine DDR. Maier verbindet keine guten Erinnerungen mit der Party, denn beim Autokorso wird ihm die Kameratasche aus dem Cabrio stibitzt. Für ein paar Wochen steht das Filmprojekt auf der Kippe. Der DFB bittet in einem öffentlichen Aufruf um die Rückgabe des Filmmaterials, und tatsächlich bekommt Maier einen Anruf. "Ich musste in ein zwielichtiges Restaurant am Frankfurter Bahnhof kommen, dort sagte mir der Wirt: Dein Kontaktmann ist nicht da, aber die Bänder haben wir!" Sepp Maier legt tausend Mark auf die Theke, und der Weg ist frei für eine späte Karriere als Filmregisseur.

11 mm, das neunte Internationale Fußballfilmfestival, läuft vom 9. bis 13. März im Berliner Kino Babylon.

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