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Sport: Showdown in Ottakring

Kroatische und türkische Wiener feiern heute

Wien - Ottakring verdankt seine Popularität der hier ansässigen Großbrauerei, es ist die letzte noch in Wien verbliebene. Das Ottakringer ist nicht gerade ein Premiumbier. Gern wird es unter Brücken und vor Bahnhöfen getrunken, aus Halbliterdosen, die Wiener nennen sie abschätzig 16er-Blech, nach dem 16. Bezirk, wie Ottakring im Amtsösterreichisch heißt.

Heute Abend wird in Ottakring gefeiert. Nicht mit 16er-Blech, sondern mit Raki und Kruskovac. Die Türkei spielt im Viertelfinale gegen Kroatien, in Wien – aber irgendwie auch in der Türkei und Kroatien. Die Polizei richtet sich auf eine lange Nacht ein, auf 200 000 Fans beider Teams, die meisten sind in Wien zu Hause. Vor allem in Ottakring, dem Arbeiterbezirk an den Hügeln des Wienerwalds mit seiner schwer überschaubaren Dichte an kroatischen, serbischen, albanischen und türkischen Kneipen und Restaurants. Die zentrale Ottakringer Straße nennt auch der seriöse „Standard“ Balkanmeile.

Gut 75 000 Menschen zählen zur türkischen Gemeinde Wien, 120 000 kommen aus dem ehemaligen Jugoslawien, größtenteils Kroaten und Serben, die hier so friedlich und gut zusammenleben wie in ihrer früheren Heimat seit Jahrzehnten nicht mehr. Als Kroatien vor zwei Wochen in Wien die Österreicher besiegte, färbten Raketen und bengalische Feuer den Abendhimmel über der Ottakringer Straße. Ähnlich turbulent ging es nach dem dramatischen 3:2-Sieg der Türken über Tschechien zu, nur dass dieses Mal Halbmondfahnen geschwenkt wurden.

Noch ist die Stimmung in Ottakring entspannt. Die Kroaten wähnen sich nach drei Siegen in der Vorrunde im Vorteil, sie haben schon in Wien gespielt und zählen auf ihre Fans, die schon seit zwei Wochen in und um Wien kampieren. Aber Kroatiens Verteidiger Danijel Pranjic hält die Türken für „ein irgendwie wildes Team“. Das soll wahrscheinlich ein Kompliment sein für den leidenschaftlich-unorthodoxen Angriffsstil des Gegners, trifft aber ganz gut die allgemeine Stimmung. Die Türken vor Wien! Kaum eine österreichische Zeitung verzichtete vor dem Viertelfinale auf diese Zeile. Zweimal belagerten türkische Heere den „goldenen Apfel“, wie sie Wien nannten, das letzte Mal vor 325 Jahren unter Kara Mustafa Pascha. Beide Male zogen sie wieder ab, ließen aber immerhin den Kaffee da.

Dass die Türken nun (wie die Kroaten) der E U beitreten wollen, empfinden viele Österreicher als dritte Belagerung. Interessanterweise ist das in Wien anders. Bürgermeister Michael Häupl, einer der einflussreichsten Sozialdemokraten im ganzen Land, plädiert seit Jahren für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Häupl wohnt in Ottakring, und natürlich wird er heute Abend im Happel-Stadion auf der Ehrentribüne sitzen. Als erster türkischer Fan hat sich Ministerpräsident Erdogan angekündigt, ihm dient der Siegeszug seines Nationalteams als kulturelle Imagekampagne auf dem Weg nach Europa. Ein Besuch in Ottakring steht nicht auf seinem Programm.Sven Goldmann

Ausführlichere Version auf unserer Sonderseite www.tagesspiegel.de/em2008.

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