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Sport: Spiegel der Seele

Speerwerfen ist ein ganz besonderer Sport für die Finnen – deshalb fiebern sie mit Tero Pitkämäki

Helsinki - Tero Pitkämäki muss sich heute ein bisschen um die finnische Seele kümmern. Er braucht bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Helsinki einfach nur Gold im Speerwerfen zu gewinnen, das wäre wie eine Streicheleinheit für die Finnen, denn Speerwerfen ist ein Spiegel ihres Innenlebens. Seine Landsleute wollen heute mit ihm leiden, deshalb war dieser Tag der Weltmeisterschaft auch am schnellsten ausverkauft. Der 22 Jahre alte Pitkämäki sagt, was ein Sportler in einer solchen Situation sagt: „Den größten Druck mache ich mir selbst.“ Glauben muss man ihm das nicht. Er ist jedenfalls der Favorit, keiner hat in diesem Jahr weiter geworfen als er: 91,53 Meter.

Pitkämäki ist der hoffnungsvollste Traditionspfleger der Finnen bei dieser Weltmeisterschaft, ihr einziger Medaillenkandidat, und das macht sie sicher ein wenig melancholisch. Die Leichtathletik ist den Finnen besonders lieb, auch weil aus ihrem Land eine der größten Legenden des Sports kommt, der Langläufer und neunmalige Olympiasieger Paavo Nurmi. Nun liegt es also an Pitkämäki. Vielleicht geht es ihm wie Tiina Lillak. Die hatte bei der ersten WM der Leichtathletik 1983 in Helsinki die einzige Goldmedaille für Finnland gewonnen – mit dem allerletzten Wurf.

Pitkämäki kommt aus Ilmajoki, einem kleinen Ort im Westen Finnlands mit 3000 Einwohnern. Die Menschen dort gelten als dickköpfig, eigensinnig und verschlossen. „Speerwerfen ist eine gute Art, seine Gefühle auszudrücken“, sagt Pitkämäki, der nebenbei ein Ingenieursstudium absolviert. Früher hatte Pitkämäki auch Fußball und Eishockey gespielt. „Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, dass ich auf der Verliererseite stand, obwohl ich gut gespielt hatte.“ Sein Trainingsprogramm gestaltet er bis heute mit allerlei unorthodoxen Methoden wie Skilanglauf oder einem Marathon. „Ich halte mich auf meine Weise gesund und war noch nie bei einer Massage oder einer Physiotherapie“, sagt er.

Der britische Speerwurfexperte Chris Turner glaubt, dass die langen Winter und die wunderbaren Sommer in Finnland einen besonders ruhigen und kräftigen Menschenschlag hervorgebracht hätten. „Psychologisch passt Speerwurf so gut zu den Finnen, weil sie dabei ihre aufgestauten Emotionen loswerden können“, sagt er. Sie tun das, indem sie den Speer hinausschleudern, aber auch durch einen martialischen Schrei. Jorma Kinnunen, der 1969 den Weltrekord hielt und Vater von Kimmo Kinnunen ist, dem Weltmeister von 1991, organisiert inzwischen einen Speerwurfwettbewerb, bei dem es nicht nur einen Preis für die größte Weite gibt, sondern auch für den besten Brüller.

Es ist eine besondere Auszeichnung, die Finnen beim Speerwerfen hinter sich zu lassen. Klaus Wolfermann hat das geschafft, er wurde 1972 in München Olympiasieger. Jedes Jahr verbrachte er mindestens einen Monat in Finnland. „In Finnland zu leben, bedeutet eine Lehrzeit für jeden Speerwerfer“, sagt er heute. Wegen der Dominanz der Finnen im Speerwerfen war sogar schon von der „finnischen Mafia“ die Rede. Wolfermann hält die Finnen allerdings nur für besonders schlitzohrig. Bei einem Speerwurfwettbewerb in Helsinki seien ihm die Schnürsenkel aus den Schuhen gestohlen worden. Darauf hätte er sich beim Platzwart Draht besorgt, um überhaupt werfen zu können.

Der Speerwurf ist den Finnen eine ernste Angelegenheit, auch weil sie nach ihrer Unabhängigkeit vom zaristischen Russland 1917 mit dem Speer ihre nationale Identität gestärkt haben. Es waren neben den Läufern die Speerwerfer, die Finnland bei Olympischen Spielen zu erstem internationalen Ruhm verhalfen. Ihrem vielleicht größten Speerwerfer, Matti Järvinen, haben sie ein heimliches Denkmal gesetzt. Auf den ersten Blick sieht der weiße Turm des Olympiastadions so aus, als hänge dort die städtische Feuerwehr ihre Schläuche zum Trocknen auf. Doch der Turm ist mit Absicht 72 Meter hoch gebaut worden. Denn mit einem Wurf über 72,71 Meter hatte Järvinen 1932 in Los Angeles olympisches Gold gewonnen.

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