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Clara Klug vom PSV München ist in Peking nicht dabei.

© Imago

Dem deutschen Para-Sport fehlt der Nachwuchs: Spitze ohne Eisberg

Der Behindertensport in Deutschland hat ein Problem. Ihm fehlt es an frischem Wind. Corona hat die Situation noch verschärft. Was ist los in den deutschen Vereinen? 

An dieser Stelle berichtete das Team der Paralympics Zeitung, ein Projekt von Tagesspiegel und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Alle Texte zu den Spielen rund um Peking finden Sie hier. Aktuelles finden Sie auf den Social Media Kanälen der Paralympics Zeitung auf Twitter, Instagram und Facebook.

Wenn aktuell die besten Para-Athleten dieser Welt in Peking und den Bergen drumherum ihr Bestes geben, kann man eines ganz leicht vergessen: Der Behindertensport in Deutschland hat ein Problem. Ihm fehlt es an Nachwuchs. Und an Manpower. Ganz gleich, ob man nun mit Winter- oder Sommer-Para-Athleten oder ihren Trainern spricht, in diesen einem Punkt sind sie sich einig: Es fehlt an frischem Wind. Während die Para-Sportwelt also nun nach Fernost blickt, ist es an der Zeit eine ganz simple Frage zu stellen. Was ist da nur los in den deutschen Vereinen?

Die Lage ist nicht zu beschönigen: Die Zahl der Menschen mit Behinderung, die auch Sport im Verein treiben, ist rückläufig. Besonders unter Kindern und Jugendlichen. Das wirkt sich auch auf den Deutschen Behindertensportverband (DBS) aus. Dessen Präsident, Friedhelm Julius Beucher, sagt: „Wir haben einen dramatischen Mitgliederrückgang, von knapp 600.000 auf nun mehr 511.000.“ Noch alarmierender dürfte aus dessen Sicht aber der wachsende Anteil derer sein, die von sich sagen, überhaupt keinen Sport zu treiben. Mehr als die Hälfte aller Menschen mit Behinderung sagen in einer Befragung, die noch vor Beginn der Corona-Pandemie durchgeführt wurde und im neuesten Teilhabebericht der Bundesregierung zitiert wird, sie seien nicht sportlich aktiv.

Die Gründe dafür sich vielschichtig, ganz klar. Und einen Sport anzufangen oder damit abzuschließen bleibt immer die Entscheidung eines Individuums. Doch natürlich gibt es Faktoren, die das eine oder andere begünstigen. Fragt man den DBS-Präsidenten Beucher nach dem Warum, dann dauert es nicht lange, bis man bei dem einen großen Thema ist: Corona und den Maßnahmen zur Eindämmung.

Beim PSV München kam mit Corona eine große Unsicherheit

Ein temporäres Verbot von Mannschaftsport, Kontaktbeschränkungen, undurchsichtige Auflagen. All das hat einen regulären Betrieb schwer bis unmöglich gemacht. Beucher sagt: „Es konnte praktisch kein Breitensport betrieben werden, weil sie quasi nicht in die Halle konnten. Ein Großteil der Sportler gehörte zur gefährdeten Gruppe. Gleiches gilt für unsere Übungsleiter, die sich nicht der Gefahr aussetzen wollten, mit einer Risikogruppe Sport zu machen.“

Was das im Einzelfall bedeutet, lässt man sich am besten von Anne Heinzl vom PSV München erzählen. Die heute 75-Jährige hat 2006 den Bayerischen Sportpreis für ihr Lebenswerk bekommen, 16 Jahre später ist sie immer noch da. Über die Jahre im Verein hat sie die Para-Sportabteilung mitaufgebaut. Hat die Karrieren von Verena Bentele und Willi Brem, zwei Übergrößen im Para-Wintersport, von Anfang an begleitet. Und ist jetzt als Abteilungsleiterin im Verein unter anderem für die Para-Biathletin Clara Klug da, die aufgrund einer Verletzung ihre Reise nach Peking kurzfristig absagen musste.

Darauf angesprochen, wie sie und ihr Verein die Corona-Zeit erlebt haben, erzählt Heinzl erst einmal von der großen Unsicherheit, die am Anfang da war: „Am Beginn der Pandemie habe ich Angst gekriegt und dachte: Meine Güte, was ist das bloß für eine Seuche?“, sagt sie. Bis zum Beginn der ersten Welle im Frühjahr 2020 hätten sie weitergemacht, bis alles geschlossen war. Dann hätten sie sich nicht mehr gesehen, sondern nur noch in ihrer WhatsApp-Gruppe geschrieben, sagt Heinzl.

Es folgte ein Auf-und-Ab, mit jeder Welle kamen neue Herausforderungen. Wettkämpfe fielen aus, und Touren in den Bayerischen Wald oder in die Alpen waren oft nicht möglich. Heinzl sagt: „Es ist sehr schade, dass wir weniger Wettkämpfe angeboten haben. Das war für uns auch ein Höhepunkt. Zu zeigen, wie gut wir sind und was wir für Leistungen erbringen können.“ Mit sinkenden Corona-Fallzahlen und einer steigenden Impfquote wurde aber auch wieder mehr möglich. Training im Freien, Zusammentreffen, Sport wie eh und je – zumindest fast. Denn eine Rückkehr zum Normalbetrieb steht aus: „Es wartet jeder, dass wieder ganz aufgemacht wird“, sagt Heinzl. Und noch gibt es Hürden, die zu bewältigen sind. Zum Beispiel müssen Hallen organisiert werden – nur sind diese in der bayerischen Landeshauptstadt notorisch knapp.

 Beim PSV sind alle Para-Sportler im Verein geblieben

In der nahen Zukunft wird es darum gehen, Menschen mit Behinderung an den Sport heranzuführen. Wieder oder gar zum ersten Mal. „Das ist eine Herausforderung und erfordert eine Mammutleistung aller Beteiligten“, sagt DBS-Präsident Beucher. Um diese Herausforderung zu stemmen, hat der DBS verschiedene Kampagnen in die Wege geleitet, möchte die Vereine und die Menschen direkt ansprechen. Ob das auch zum Erfolg führt, steht in Sternen.

Anne Heinzl vom PSV München hat zudem die Befürchtung, dass zukünftig immer weniger Jugendliche Para-Sport machen. Ihre Einschätzung: „Die Leistungsanforderung in den Schulen ist sehr hoch geworden, da müssen die Jugendlichen immer mehr Zeit reinstecken. Auch ist durch die Ablenkung durch andere Medien das Interesse an Sport einfach nicht mehr so hoch, meine ich.“

Glück hat die Münchnerin trotzdem. Denn sie muss sich erst einmal nicht daransetzen, Mitglieder wiederzugewinnen. Bei ihr im Verein sind alle Para-Sportler geblieben. Warum? Das weiß sie selbst nicht so genau, gibt sie zu. Aber sie hat eine Vermutung: „Der Zusammenhalt lässt sie bleiben. Und die Tatsache, dass wir ihnen trotz der Pandemie etwas angeboten haben.“ Die Para-Sport-Gruppe, in der seit einigen Jahren auch nicht-behinderte Freunde von den Para-Athleten mittrainieren, nennt sie „eine Familie“.

Max Fluder

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