zum Hauptinhalt
Kirsten Bruhn, 51, ist eine der erfolgreichsten Athletinnen im deutschen Behindertensport.

© Imago

Kirsten Bruhn im Interview: „Sport gibt die Regeln vor, die alle befolgen“

Die ehemalige Para-Schwimmerin Kirsten Bruhn über Ihre Arbeit bei den Paralympics, die Zeit nach der Karriere und den Einfluss vom Sport.

Frau Bruhn, Sie waren seit 2004 bei allen Sommer-Paralympics. Worauf freuen Sie sich in Tokio am meisten?

Natürlich live bei den Schwimmwettkämpfen dabei zu sein und unsere Athletinnen und Athleten, hoffentlich, auf ihrem Weg zum persönlichen Erfolg zu erleben.

Haben Sie sich vorgenommen, dieses Mal auch bei anderen Sportarten vorbeizuschauen?

Ja, das ist eine Frage der Möglichkeiten. Wegen der Vorschriften und den Kontaktbeschränkungen wird es schwer sein, Zuschauerin bei anderen Wettkämpfen zu sein. Aber ich hoffe, dass ich mir etwas anderes angucken darf. Wenn sich eine Chance ergibt, werde ich sie hundertprozentig nutzen. 

Sie waren selbst über viele Jahre Leistungsschwimmerin. Was bedeutet Ihnen das Schwimmen?

Das Schwimmen ist wie eine Art Medizin für mich. Unabhängig von irgendwelchen Leistungserfolgen fühle ich mich automatisch besser, wenn ich Sport treibe. Dieses wohlige Gefühl der Bewegung im Wasser – das ist pure Leichtigkeit. Hinzu kommt für mich, dass ich im Wasser viel mobiler bin, was meinen Beinen sehr wohltut. Dann vergesse ich glatt den Querschnitt.

Werden Sie auch in Tokio die Möglichkeit haben zu schwimmen?

Ich hoffe, das es mir hier möglich sein wird, einmal zu schwimmen. Da bin ich aber gerade noch etwas skeptisch.

Vermissen Sie das Gefühl, als Athletin auf dem Startblock zu stehen?

Auch wenn ich jetzt bei den Spielen dabei bin, so bin ich froh, wieder Zuschauerin zu sein, wie in Rio. So gesehen vermisse ich es gar nicht. Aufzuhören war für mich eine sehr bewusste Entscheidung. Diese mentale Einstellung und Zerrissenheit, zwischen Druck, Stärke und Gier des Wetteiferns, dass ist komplett weg. Ich möchte einfach keine Wettkämpfe mehr schwimmen. Anders ist es mit dem Gefühl von Zugehörigkeit, innerhalb der Schwimmhallen. Das fehlt mir sehr. Das Problem ist nur, dass das Wetteifern ein Teil dieser Zugehörigkeit ist – das weiß ich. Aber trotzdem fehlt mir dieser Zusammenhalt. Das lässt die Erinnerung an damals gelegentlich etwas schmerzlich erscheinen. Was ich allerdings feststellen durfte: Ich liebe es einfach anderen beim Schwimmen zuzugucken – wenn die da so gefühlt leicht und elegant durchs Wasser gleiten. Ich weiß welche Arbeit dahinter steckt.

Wenn Sie die Athletinnen und Athleten gerne beim Schwimmen beobachten: Haben Sie auch mal darüber nachgedacht, selbst Trainerin zu werden?

Also Trainerin sein, das ist nicht meins. Wenn es um das Schwimmen geht, bin ich der Überzeugung, dass ich das gut weitervermitteln könnte. Und das auch auf eine Weise, die verstanden wird und motiviert. Aber du musst als Trainerin oder Trainer nicht nur Expertise vom Sport haben. Du musst gleichzeitig Physiotherapeut, Freund, Mutter oder Vater sein, verbunden mit ganz vielen anderen Dingen, die man zunächst nicht auf dem Schirm hat. Du bist auch außerhalb des Trainings für die Athletin oder den Athleten eine Begleitperson und Unterstützer. Leistungssportlerinnen und -sportler haben oft Kummer und ihre Höhen und Tiefen, vor allem im Para-Sport. Das würde mich vermutlich viel zu sehr mitnehmen. Ich würde Gefahr laufen, daran zu zerbrechen.

Was hat sich nach dem Rückzug 2014 aus dem Leistungssport in Ihrem Leben maßgeblich verändert?

Ich war zunächst nur sehr besorgt, dass ich das mit dem Abtrainieren nicht richtig hinbekomme und Herzkreislaufprobleme kriege oder ähnliches. Sprich, ich konnte nicht von dem einen auf den andern Tag das Leistungstraining herunterfahren. Ansonsten ist mir zunächst mein täglicher Rhythmus weggebrochen. Den musste ich mir erst wieder neu zusammenstellen. Es ist so, ich brauche immer einen Plan – eine Art Gerüst, an dem ich mich entlang hangele. Wenn ich dann am Abend sagen kann, ich habe alle Punkte abgehakt, dann war das ein erfüllter Tag.  Ohne dieses Training auf Leistung war das auf einmal was anderes. 

Sie haben Ihre Begeisterung für den Sport in der Vermittlungsarbeit am Unfallkrankenhaus Berlin fortsetzten können. Wie entstand der Kontakt zum Krankenhaus?

Ich haben im Zeitraum zwischen 2004 und 2005, zusammen mit der Deutschen gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), Kliniktouren durch Deutschland machen können. Ich war eine von sechs paralympischen Athletinnen und Athleten als Botschafter für die Tour. Diese hatte verschiedene Stationen in Deutschland, unteranderem auch in Berlin am Unfallkrankenhaus und in Greifswald. Dort kam ich das erste Mal mit meinem heutigen Chef in Kontakt. Er sagte mir, dass er das großartig fand, wie ich geredet habe, wie ich rüberkomme und dass er sich vorstellen könnte, mich in seinem Krankenhaus zu beschäftigen. Ich brauchte noch ein wenig Bedenkzeit, bis ich mich auf den neuen Job und Berlin einlassen konnte. Zusätzlich war ich zu dem Zeitpunkt auch noch auf Vollzeit als Sportlerin aktiv. Anfang 2014 bin ich dann nach Berlin gezogen.

Welchen Aufgaben gehen Sie dort nach?

Ich begleite frisch Verletzte und bin in der Rehabilitation tätig. Aber meine Haupttätigkeit ist im Außendienst. Dort bin ich an Schulen und Universitäten unterwegs, thematisiere mit den Teilnehmenden, was es bedeutet, eine Behinderung zu haben und sich im Rahmen der körperlichen Möglichkeiten sportlich zu betätigen und ein lebenswertes Leben zu leben. Das geht meistens ganz gut, wenn sie verstehen, was du machst und sich selber unter unbekannten Einschränkungen in ihrer Bewegung erleben. Ich mache mit den Kindern und Jugendlichen Sport, gehe zum Beispiel mit ihnen schwimmen, wir spielen Rollstuhlbasketball oder machen andere Fitnessübungen. Sodass sie verstehen, dass man sich auch mit einem Querschnitt oder mit einer anderen Beeinträchtigung teilweise besser bewegen kann, als man denkt. 

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräteherunterladen können]

Vor welche Herausforderungen stellt Sie Ihre Arbeit im Außendienst gelegentlich? 

Also Herausforderungen orientieren sich an der Altersgruppe, mit der ich konfrontiert werde. Die Kleineren kann man eher mal begeistern. Aber bei den „Pubertierenden“ – sag ich mal – da ist die Herausforderung, die Jugendlichen thematisch abzuholen. Kann ich sie mit meinen Eindrücken und Erzählungen bereichern, auf eine Art und Weise, dass sie mitgehen und versuchen, sich da reinzudenken und zu reflektieren? Ich möchte ihnen nicht vermitteln, dass sie unfit sind, sondern ihnen zeigen, wie wichtig es ist, sich zu bewegen. Und zweitens, dass nicht das Äußere, sondern das Innere ganz entscheidend ist. Völlig unerheblich, ob man einer Einschränkung unterliegt oder nicht – es sind alles Menschen.

Ist Ihr Konzept bisher immer aufgegangen?

Bisher hat es immer funktioniert – und das waren auch die schönsten Momente. Wenn die Kinder begreifen, dass es schön sein kann, sich gemeinsam zu ereifern und von und miteinander zu lernen. Der Sport ist eine sehr gesellige Form des Zusammenseins, was ich oft als Feedback zurückbekomme. Das brauchen mir die Teilnehmenden teilweise nicht mal in Worten zurückmelden. Ich nehme ihre Gesichter wahr, wenn sie strahlen und gute Laune verbreiten, weil sie sich befreit fühlen. Das ist mir immer wieder eine große Freude, was mich daran erinnert, welchen Sinn mir der Sport im Leben gegeben hat.

Welches Potenzial sehen Sie in Ihrer Arbeit: Denken Sie, solche Angebote sind noch viel zu selten?

Ja, definitiv. Gerade in bestimmten Sportarten, wie beispielsweise im Schwimmen, sind Para-Athletinnen und -Athleten auf Augenhöhe mit Sportlerinnen und Sportlern ohne Behinderung. Die Mehrheit muss begreifen, dass dort keiner mehr oder weniger ist. Viel zu oft separiert man zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, in einer Welt, die für Betroffene wie mich nicht ausgelegt ist. Der Sport ist einer der wenigen Variablen im Alltag, wo man über körperliche Einschränkungen hinwegsehen kann. Deshalb sollte im freizeitlichen Engagement für den Sport von einer Trennung abgesehen werden, um einen echten Konsens zu schaffen. Darum ist es so wichtig, dass es solche Menschen gibt wie mich, die von ihrer Expertise und Erfahrungen berichten können und nicht nur die Höhen einer Leistungssportkarriere in den Fokus setzen. Sodass jeder begreift: Ich bin kein Einzelfall, nur weil ich vor neun Jahren Paralympisches Gold gewonnen habe. Es gibt ein Leben nach dem Leistungssport und das musste ich mir erneut genauso hart erkämpfen wie jede und jeder andere auch. Für Erfolg muss Entsprechendes getan werden. Dass gelingt einem nur, wenn man für seine Träume einsteht und sich bewegt.

Warum ist Sport der bestmögliche Ansatz für Inklusion?

Weil der Sport Menschen und Kulturen verbindet und letztendlich Regeln vorgibt, die alle befolgen. Das ist ganz entscheidend und wichtig für eine inklusive Gemeinschaft – wie eine Art Leitfaden. Jede und jeder bekommt seine Chancen und Möglichkeiten, wenn er sich an die Spielregeln hält. Das kann ich Kindern und Jugendlichen im Außendienst, mit dem Sport, und über den Sport vermitteln.

In dem 2013 veröffentlichten Dokumentarfilm „GOLD“ erwähnen Sie, dass Sie immer eine Lebensaufgabe brauchen werden. Haben Sie diese in Ihrer Arbeit gefunden?

Während der Dreharbeiten für „GOLD“ stand ich an einem anderen Punkt in meinem Leben. Vieles hat sich seitdem geändert, aber meine Einstellung gegenüber dem Sport nicht. Dieses Vermitteln von meiner Leidenschaft, der Bewegung und des Schwimmens, wenn ich das hinkriege und merke, da habe ich jemanden erreichen können – das ist für mich ganz viel wert. Genau das brauche ich auch, um das Gefühl zu haben, ich mache etwas Sinnstiftendes. Für mich war einfach entscheidend, dass ich etwas mache, das mir genau dieses Lebensgefühl vermittelt, was ich so lange nach dem Unfall 1991 vermisst hatte. Das habe ich mit dem Schwimmen und über den Sport, zu meinem Glück, schaffen können. 

Dieses Interview ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.

Nils Wattenberg

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false