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Sport: Stabile Stärke

Gegen die Schweiz zeigt sich, wie sehr die Nationalmannschaft im letzten Jahr gewachsen ist

In den Abpfiff hinein blaffte Per Mertesacker den schmächtigen Jan Schlaudraff an, und dessen Körper reagierte sofort: Die hängende Schulter rutschte noch ein Stück tiefer. Der Verteidiger aus Bremen betrieb noch eine private Nachschulung und bedeutete dem Aachener Stürmerchen mit ausladenden Armbewegungen, welchen Laufweg er nach einem langen Pass hätte nehmen müssen. Schlaudraff hatte in Anbetracht des nahenden Schlusspfiffs nur noch Alibischritte gemacht. Während die anderen deutschen Spieler sich nach dem 3:1-Sieg gegen die Schweiz gegenseitig abklatschten, zeterte Mertesacker mit dem Neuling.

Jan Schlaudraff hat im Oktober sein Debüt in der Nationalelf gegeben, aber solange er deren Spielphilosophie noch nicht verinnerlicht hat, bleibt der 23-Jährige ein Anwärter, vielleicht sogar ein Fremder. Mertesacker ist zwar ein Jahr jünger als der Aachener, hat aber am Mittwoch bereits sein 30. Länderspiel bestritten, und wenn ein Spieler für die Entwicklung der Nationalelf steht, dann er. Mertesacker ist das Vorzeigeprodukt der von Jürgen Klinsmann erdachten und von Joachim Löw umgesetzten Reformbewegung. Und kein anderer Spieler wurde umgekehrt so geprägt von der Nationalelf. Deshalb wird Mertesacker zornig, wenn jemand das Gebilde gefährdet.

Aus seiner Reaktion sprach ein Hang zur Perfektion, der nicht nur löblich ist, sondern für die deutsche Nationalelf weiterhin notwendig. Vielleicht war dies die wertvollste Erkenntnis aus dem ersten Länderspiel des Jahres 2007 – und die Schweiz der richtige Gegner. Die Mannschaft von Köbi Kuhn, im Sommer 2008 Gastgeber der Europameisterschaft, durchlebt gerade zeitversetzt eine ähnliche Entwicklung wie die Deutschen vor der Weltmeisterschaft. Das Spiel in Düsseldorf bot wenig Anhaltspunkte dafür, dass Kuhns Vorhaben, 2008 den Titel zu holen, einen Bezug zur Realität besitzt.

Doch Düsseldorf könnte für die Schweiz das werden, was für die Deutschen vor elf Monaten Florenz war: eine Warnung zur rechten Zeit. Im direkten Vergleich mit der Schweiz zeigte sich erst, welche Fortschritte die deutsche Mannschaft seit dem 1:4 gegen Italien gemacht hat – und welche Fortschritte in kurzer Zeit möglich sind. „Wir sind mindestens eine Klasse besser als vor einem Jahr“, sagte Torhüter Jens Lehmann. Kuhn sagte nur: „Deutschland hat uns den Meister gezeigt.“

Die Schweiz hat in den vergangenen zehn Jahren eine Generation von Fußballern ausgebildet, die auf internationalem Niveau mithalten können. Die Spieler sind für ein bestimmtes System geschult worden, in dem sie nahezu perfekt funktionieren und mit dem sie den Mangel an wirklichen Ausnahmefußballern kompensieren können. „Wir müssen immer über uns hinauswachsen, um gegen große Gegner zu bestehen“, sagte Tranquillo Barnetta. Gefährlich wird es für die Schweiz, wenn die Funktionsfußballer anfangen, sich für Ausnahmekönner halten. „Vieles ist nicht präzise abgelaufen, nur so ungefähr“, klagte Kuhn in Düsseldorf.

Nicht einmal die Deutschen können sich das erlauben, obwohl oder gerade weil sie inzwischen über erstaunliche Systemsicherheit verfügen. Als sich die Mannschaft in der zweiten Halbzeit der Improvisation hingab, zeigte sich, dass ihre neue Stärke nicht naturgegeben ist. Trotzdem zog Bundestrainer Joachim Löw aus dem Spiel die wichtige Erkenntnis, „dass wir Dinge abrufen können, die wir schon 2006 gezeigt hatten“. Und wenn die Mannschaft es tatsächlich tut, besitzt sie eine stabile Stärke, die ihr vor einem Jahr niemand zugetraut hätte. Die deutsche Elf steht sicher und kompakt, sie kann Takt und Rhythmus vorgeben, sie spielt organisiert, schnell und offensiv aus der Abwehr heraus. Mario Gomez, zum ersten Mal dabei, hatte den Eindruck: „Die Mannschaft funktioniert sehr gut.“ Das deckt sich mit den Beobachtungen aller anderen Debütanten seit der WM.

In der Regel versammelt eine Nationalelf die besten Fußballer eines Landes, und je besser die Qualität der Einzelnen, desto größer wird am Ende die Qualität des Teams sein. Das Geheimnis der aktuellen deutschen Erfolge ist: Die Mannschaft ist mehr als die Summe ihrer Einzelteile –, weil sie längst denkt, trainiert und spielt wie eine Vereinsmannschaft. „Wir sind eine Mannschaft, die relativ eingespielt ist“, sagte Torsten Frings. „Da ist es nicht tragisch, wenn der eine oder andere ausfällt. Der Kern steht ja.“

Die Stammelf der WM bildet den Kern, aber um ihn herum kreisen inzwischen einige Spieler, die im Zweifel einspringen können, ohne dass dies gefährliche Dysfunktionen zur Folge hat. Im Herbst ersetzten Arne und Manuel Friedrich die verletzte WM-Innenverteidigung Mertesacker/Metzelder fast gleichwertig, und nach Düsseldorf tun sich neue Möglichkeiten im Sturm auf. Rückkehrer Kevin Kuranyi und Neuling Mario Gomez trafen. „Sie haben ihre Chance genutzt“, sagte Löw. Bisher sind Miroslav Klose und Lukas Podolski Deutschlands erster Sturm. Weil Klose aber für das kommende EM-Qualifikationsspiel gegen Tschechien gesperrt ist, war in Düsseldorf ein Partner für Podolski gesucht worden. Gefunden hat der Bundestrainer doppelt so viele.

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