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STEIL Pass: So und nicht anders

Stefan Hermanns über den Fußball und seine stetige Neubewertung

Einer populären, wissenschaftlich jedoch weitgehend unbewiesenen Behauptung zufolge bezieht der Fußball seinen besonderen Reiz aus der Tatsache, dass niemand am Anfang weiß, wie es am Ende ausgeht. Das ist wohl nur ein Teil der Wahrheit. Der Fußball lebt vor allem von der nachträglichen Interpretation dessen, was war, gerade darin liegt seine Herrschaft über den öffentlichen Diskurs begründet. Über nichts lässt sich montags am Arbeitsplatz so leidenschaftlich streiten wie darüber, ob der Trainer blind ist oder nicht doch ein grandioser Taktiker, der Innenverteidiger zu langsam oder überragend im Stellungsspiel, der Mittelstürmer eine Lusche oder ein begnadeter Vorbereiter.

Der Fußball lebt von Legenden und windigen Erinnerungen. Was war, ist nicht gewesen, sondern wird immer noch, weil der Fußball einer ständigen Neubewertung ausgesetzt ist. Nehmen wir Rudi Völler, der die Deutschen 2002 mit ihrer Nationalmannschaft versöhnt zu haben schien. Ja, ja, das mit den Hupkonzerten nach den Grottenkicks gegen Paraguay, die USA und Südkorea ist uns heute natürlich ausgesprochen peinlich. Aber empfanden wir nicht damals unendlichen Dank, weil Völler uns einige kostbare Momente kollektiven Glücks geschenkt hat? Und heute? Nach Klinsmanns Kulturrevolution soll jetzt doch alles wieder nur Rumpelfußball, ewiges Quergeschiebe, unverschämtes Losglück und kleingeistige Ergebnisschinderei gewesen sein.

Der Deutsche zertrümmert seine Denkmäler mit Genuss, und weil wir schon mal dabei sind: Was war denn so märchenhaft am Sommermärchen 2006? Als Gastgeber im Halbfinale – das hat selbst Südkorea geschafft. Oder 1986 im Finale gegen Argentinien: dieses unsägliche Pech, 2:2 nach 0:2 und dann noch verloren, weil Maradona im richtigen Moment einen Geistesblitz aussandte. Oder vielleicht doch eher, weil wir in 90 Minuten uns nicht eine einzige Chance gegen Argentinien erspielen konnten? Und 1990 die Revanche, der verdiente Titel, weil wir die Besten der Welt waren, fußballerisch so weit vorne, dass wir im Viertelfinale, im Halbfinale und im Finale nicht mal ein Tor aus dem Spiel heraus erzielten?

Man kann das alles natürlich auch ganz anders sehen.

Stefan Hermanns schreibt an dieser Stelle im Wechsel mit „11Freunde“-Chefredakteur Philipp Köster.

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