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Exotisch, aber explosiv. Anika Schulze (rechts) gehört zu den 16 besten Sumoringerinnen der Welt.

© Imago

Sumoringer aus Brandenburg: Mit voller Kraft zu den World Games

Die World Games sind nicht so bedeutend wie Olympia. Und doch tun die Athleten alles, um dabei zu sein – wie Sumoringerin Anika Schulze aus Brandenburg.

Von Johannes Nedo

Es ist ein Kraftakt, schon lange bevor der Kampf losgeht. Anika Schulze ist eine starke Frau, sie hat kräftige Oberarme, kräftige Oberschenkel und wiegt 95 Kilogramm, verteilt auf 1,70 Meter. Doch den Mawashi, den Gürtel der Sumoringer, kann sie sich nicht allein umbinden. Der ist steifer als ein Feuerwehrschlauch. Also führt sie das eine Ende zwischen den Beinen hindurch und gibt das andere Ende ihrer Trainerin Sandra Köppen- Zuckschwerdt. Dann dreht sich Schulze viermal um die eigene Achse und Köppen-Zuckschwerdt zieht und zerrt mit voller Kraft und bindet schließlich einen Knoten.

Anika Schulze, 33, steht mit vier anderen Sumoringern in einer kleinen Kampfsporthalle in Brandenburg an der Havel. Die Decke ist niedrig, der Boden ganz mit Matten ausgelegt, am anderen Ende der Halle absolvieren vier Jungen halbherzig Judo-Übungen. Schulze läuft sich sofort warm, in hohem Joggingtempo und mit entschlossenem Blick. Sie macht das nicht halbherzig. Sie ist absolut fokussiert, mit ihrem lila-leuchtenden Mawashi.

Die Gürtel ihrer Trainingskollegen stechen nicht so hervor, sie sind weiß oder dunkelgrau. Lila ist Schulzes Lieblingsfarbe. Und weil ein Mawashi in lila Stoff kaum zu bekommen und zu teuer ist, haben Schulze und Köppen-Zuckschwerdt ihn gefärbt – mit sinnlicher Beere. So heißt die Farbe des Mittels aus der Drogerie. Fünf oder sechs Packungen haben sie gebraucht für die sieben Meter Stoff, damit bloß kein weißer Fleck auf dem Mawashi bleibt. Das ist ein großer Aufwand, zusätzlich zu dem Training viermal pro Woche nach Ausbildung und Arbeit. Aber es steht ja auch etwas Besonderes an, auf das Schulze vier Jahre lang hingearbeitet hat. Und dass die Heilerziehungspflegerin es dorthin geschafft hat, ist nun auch an der kleinen Extravaganz ihres lila Gürtels zu erkennen.

Schulze träumt von einer Medaille

Am Donnerstag beginnen in Breslau die World Games. Es sind die Olympischen Spiele der nichtolympischen Sportarten. Sumo gehört dazu, Tauziehen, Kanu-Polo, Beachhandball, Orientierungslauf oder Fallschirmspringen. Insgesamt sind es 32 Sportarten. Sportarten, deren Athleten sonst kaum Aufmerksamkeit erhalten. Doch während der elf Tage in Polen bekommen rund 3500 Athleten aus mehr als 100 Ländern eine große Bühne.

Die World Games bewegen sich natürlich in anderen Dimensionen als Olympia, wo mehr als dreimal so viele Athleten starten, Superstars dabei sind und Medien- und Zuschauerinteresse riesig sind. Dennoch rücken die World Games Anika Schulze und die anderen 185 deutschen Athleten in Breslau in ein ganz neues Rampenlicht – nicht nur weil der Fernsehsender Sport 1 mindestens 90 Stunden live nach Deutschland überträgt. Die World Games sind das ultimative Ziel dieser Athleten, die fast nie Förderung bekommen und ihren Sport trotzdem auf dem höchsten Niveau ausüben. Wie Anika Schulze aus Brandenburg an der Havel und ihre drei Sumo-Teamkolleginnen. Es ist nicht Olympia, aber für sie ist es das größte.

Wie berauschend die World Games sein können, hat Schulze schon einmal erlebt: 2001 im japanischen Akita. Mit 17 Jahren war sie in den Kader gerutscht und dann überraschend Fünfte geworden. „Das mitzuerleben war unbeschreiblich“, sagt sie. In Japan hat Sumo seinen Ursprung, dort ist es eine der beliebtesten Sportarten. Entsprechend stark standen sie plötzlich im Fokus. Doch es war vor allem der Geist der World Games, der Schulze gepackt hatte. „Und der Zusammenhalt in der deutschen Mannschaft“, sagt sie. Seit Akita 2001 war Schulze nicht mehr bei den World Games dabei. Die Qualifikation ist hart, nur 16 Sumoringerinnen aus aller Welt dürfen pro Gewichtsklasse teilnehmen. Umso mehr fiebert sie nun Breslau entgegen – und träumt von einer Medaille.

Trainerin Sandra Köppen-Zuckschwerdt war erfolgreiche Sumoringerin und Judoka.
Trainerin Sandra Köppen-Zuckschwerdt war erfolgreiche Sumoringerin und Judoka.

© dpa

Schulze hat ihre hellblonden Haare zum Zopf gebunden, auf ihrem rechten Bein hat sie ein großes Tattoo: Eine Ranke mit vielen kleinen floralen Verzweigungen, die ihren Lebensweg symbolisiert, verläuft vom Knie bis zum Fuß. Sie kam vom Judo zum Sumo. Mit 16 versuchte sie es zum ersten Mal: „Und ich habe mich gar nicht schlecht angestellt.“ Sie gewann ihr erstes Turnier, seitdem kommt sie nicht davon los. „Man muss so schnell und so flexibel sein“, sagt sie. Wer den Gegner aus dem Ring herausschiebt oder es schafft, dass der Gegner mit einem anderen Körperteil als der Fußsohle den Boden berührt, gewinnt. Bei den Kämpfen geht es zack-zack, meist dauern sie nicht länger als 30 Sekunden.

Natürlich kennt Schulze all die Sprüche und Vorurteile zu Sumo: „Von wegen, da hampeln nur dicke Männer aus Japan rum. Das ist Blödsinn.“ Sie sagt das trotzig, aber leise. Überhaupt spricht sie gedämpft, etwas zurückhaltend. Und meistens schiebt sie ein sanftes „Joa“ oder ein fast schüchternes „Ich sage mal“ vor ihre Sätze.

Ihre Trainerin ist ganz anders. Sandra Köppen-Zuckschwerdt ist direkt, voller Selbstbewusstsein und mit viel Brandenburger Chuzpe ausgestattet. Die kräftige Frau mit den kurzen dunklen Haaren nahm als Judoka an drei Olympischen Spielen teil und gewann unter anderem WM-Bronze. Nebenbei machte sie auch Sumo – und das überaus erfolgreich. Köppen-Zuckschwerdt war sieben Mal Weltmeisterin, sieben Mal Europameisterin und einmal gewann sie bei den World Games. Doch Köppen-Zuckschwerdts Knie und Schultern sind mittlerweile völlig kaputt. Drei künstliche Gelenke hat die 42-Jährige, sie ist verrentet. Nun ist sie ehrenamtliche Sumo-Bundestrainerin. „Das hält mich am Leben“, sagt sie.

Die Sumoringer müssen fast alles selbst bezahlen

Köppen-Zuckschwerdt sitzt auf einem Hocker neben dem Sumoring und gibt Anweisungen während der Trainingskämpfe. „Stehenbleiben, stehenbleiben“, ruft sie, als Schulze am äußersten Rand steht und sich dagegen wehrt, herausgeschoben zu werden. Im Kampf geht es nicht nur um schiere Kraft. Es geht darum: Agiere ich schneller als der Gegner? Oder reagiere ich auf dessen Angriff und lasse ihn so im besten Falle ganz ins Aus laufen?

Im Training übt Schulze die zahlreichen Angriffstaktiken wieder und wieder. Sie geht in die Ausgangsposition vor dem Kampf: eine tiefe Hocke, die Hände sind vor dem Körper aufgestützt. Fast wie vor dem Start eines Sprintrennens sieht das aus. Dann schauen sich die Kontrahenten an, und sobald der Ringrichter das Signal gibt, fliegen beide regelrecht aufeinander zu. Mit voller Wucht und höchster Geschwindigkeit. Sie versuchen, sich am Gürtel des anderen festzugreifen, den anderen aus der Balance zu bringen – und so aus dem Ring oder auf den Boden zu befördern.

„Klar sind wir exotisch, aber das ist ein explosiver Sport. Und hinter dem Speck muss auch Muskulatur sein“, sagt Köppen-Zuckschwerdt. Sie hilft ihren Athleten, wo sie nur kann. Aber sie erwartet auch vollen Einsatz. So hat sie nun vier Frauen zu den World Games geführt. „Das ist gigantisch“, betont sie. Denn die Bedingungen sind äußerst widrig. Schulze und die anderen Sumoringerinnen betreiben ihren Sport nur in der Freizeit. Der Deutsche Sumo-Bund hat kaum Geld, und so müssen die Athleten die Reisekosten zu den Turnieren oder Welt- und Europameisterschaften meist selbst zahlen. Bei der WM im vergangenen Jahr in der Mongolei kamen wegen der teuren Flüge für jeden Kosten von mindestens 2000 Euro zusammen.

„Ich sage mir immer: Ich muss mir das selbst verdienen“, sagt Anika Schulze. Gerade hat sie ihre Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin abgeschlossen. Nebenbei jobbte sie abends und nachts als Kellnerin, um sich das Geld für die Turnierteilnahmen zu ersparen. „Wenn ich es dann immer wieder schaffe, bin ich total stolz“, sagt Schulze. „Denn ich weiß: Das ist nicht selbstverständlich.“ Von diesem Einsatz ist Köppen-Zuckschwerdt immer wieder gerührt. „Anika hat Halt gefunden in unserer Sumo-Familie“, sagt sie. Die Trainerin versucht auch bei der Finanzierung zu helfen, Zuschüsse vom Land zu bekommen oder Sponsoren zu finden. Insofern sind die World Games auch etwas Besonderes, denn dafür trägt der Deutsche Olympische Sportbund die Kosten. Ebenso für die Einkleidung.

Für Breslau müssen die Sumoringerinnen trotzdem Einschränkungen hinnehmen, die für Olympioniken unvorstellbar wären. Weil eine Teamkollegin am Mittwoch nicht früher frei bekommt, können sie erst später gen Polen aufbrechen. Das verzögert natürlich die Vorbereitung vor Ort. Es ist ein Kraftakt.

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