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Gamm

© dpa

Turmspringen: "Das ist ihr seit 20 Jahren nicht mehr passiert"

Die Turmspringerin Annett Gamm hat in Peking Medaillenchancen im Sychronspringen – wenn sie denn richtig eintaucht.

Wie gewinnt man eine olympische Medaille? Mit Talent, Glück – und vor allem Training. Wir haben einige der besten deutschen Sportler vor den Olympischen Spielen in ihrem Training besucht. Heute Folge

3: Turmspringerin Annett Gamm.

Annett Gamm kann ihre Zehen strecken, sie kann auch mit dem Kopf wackeln oder ihre Hände ausstrecken, das alles geht problemlos. Mehr kann sie nicht. Frank Taubert, ihr Trainer, hat sie festgeschnallt. Ein Gurt um ihren Oberkörper, einer an den Beinen, Annett Gamm ist verschnürt wie ein Weihnachtspaket. Und daneben steht Taubert und greift ein Metallrad. Dieses Rad dreht die Querstange, an die eine Art Sitz montiert wurde. Und auf diesem Sitz hockt Annett Gamm, vierfache Europameisterin im Synchronspringen vom Turm.

Ihr Gesicht hat eine Rotfärbung. Das liegt an den Saltos, die sie ständig dreht. Genau gesagt, dreht Taubert die Stange und damit Gamm. Deshalb heißt die ganze Vorrichtung auch banal „Saltodrehgerät“. Taubert war selber schon an so einer Maschine festgezurrt, 30 Jahre ist das her, als er noch für die DDR bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen sprang. „Mir ist schon an dem Gerät schlecht geworden“, sagt er, ein gemütlicher Mann mit Bauchansatz und grauen Haaren. Taubert ist jetzt 52.

Das Gerät hier ist 46 Jahre jünger, aber das Prinzip der Maschinerie ist immer gleich. Hier können Streck- und Eintauchphasen trainiert werden. Es ist 14 Uhr 45, ein trüber Sommertag in Dresden. Der Bundesstützpunkt für Kunst- und Turmspringen ist ein graues Gebäude. Innen ist ein Pool mit Sprungturm und daneben ein Trockenübungsraum mit Schnitzelgrube. Dort hängt gerade Annett Gamm vom Dresdner SC. In den Pool können Gamm und Taubert jetzt nicht, da sind ältere Damen und machen Aqua-Fitness.

Annett Gamm übt die Streckphase beim dreieinhalbfachen Vorwärtssalto. Sie muss im richtigen Moment die Hände nach vorne strecken, das ist eigentlich alles. Das ist in Wirklichkeit aber verdammt schwierig, und heute wird nichts richtig funktionieren. Aber das wissen sie jetzt noch nicht. Sie ahnen es nur, weil kaum ein Versuch gelingt. Taubert sagt: „Die Arme sind zu schnell vorne“. Sie sagt: „Du musst ein bisschen langsamer drehen.“ Er: „Du streckst Deine Hände nicht richtig.“ Oder: „Du bist zu halbherzig.“

15 Uhr 02, Annett Gamm steigt ab und stöhnt. Die Beine tun weh. Sie geht ungelenk zu einer Matte. Zeit zum Dehnen.

15 Uhr 11, die 31-Jährige zieht ihre Trainingshose aus, sie trägt jetzt nur noch Leggings. Annett Gamm postiert sich mit dem Rücken zur Schnitzelgrube und macht einen eineinviertel Salto in die Schaumstoff-Teile. Hier geht es bloß um den Absprung. Aber sie wirkt nicht dynamisch. „Ihr fehlt ein wenig die Kraft“, sagt Taubert. Er weiß nicht, warum. „Sie wird relativ schnell schlapp“, sagt er, „das ist ungewöhnlich.“ Dann ruft er: „Der war extrem weit raus. Das liegt daran, dass Du denkst: ,Jetzt schaffe ich es nicht mehr.’“ Sechs Versuche, sechs verpatzte Sprünge. Taubert resigniert: „Nee, lass es sein.“ Jetzt versuchst Du, mit dem Kopf das Letzte herauszuholen, aber das klappt nicht.“ Annett Gamm nickt müde. „Geh’ duschen“, sagt Taubert. In Peking darf so etwas nicht passieren. Gamm und Nora Subschinski aus Berlin haben im Synchronspringen Medaillenchancen, aber dazu müssen sie fit sein.

15 Uhr 37, die Frauen sind aus dem Pool, Annett Gamm sitzt auf der Drei-Meter-Plattform. Ihre Füße sind angezogen, sie lässt sich fallen. Es geht jetzt nur ums Eintauchen. Die Atmosphäre der Halle mit den Betonwänden erinnert an einen Bunker, weil nur acht der 24 Lampen brennen. Gamm beschwert sich in fünf Meter Höhe über das diffuse Licht. „Es ist unangenehm, wenn man vom Dunkeln ins Helle fällt“, sagt Taubert. Er sitzt auf einem Plastikstuhl.

Oben nimmt Annett Gamm Anlauf. Es sieht elegant aus, sie hat es tausende Mal geübt. Es ist der Anlauf zu einem zweieinhalbfachen Salto vorwärts. Sie drückt sich ab und plumpst wie ein Sack Kartoffeln nach unten. Die Füße gestreckt, wie ein Hobbyspringer im Freibad, der sich nicht traut, einen Kopfsprung zu machen. Taubert ist fassungslos. Er wird nicht laut, er schüttelt nur leicht den Kopf. „So etwas ist ihr seit 20 Jahren nicht mehr passiert“, sagt er. Ein Zeichen für den Zustand von Annett Gamm an diesem Tag. Sie sagt etwas im Wasser, vielleicht eine Erklärung, vielleicht eine Entschuldigung, man kann es nicht verstehen.

Zweiter Versuch, die Landung geht völlig schief. In der Halle ist es jetzt heller. „Das Licht ist angegangen, als sie angelaufen ist“, sagt Taubert. „Das hat sie gestört.“ Gamm klettert auf den Zehn-Meter-Turm. Sie möchte einen dreieinhalbfachen Vorwärtssalto gehechtet zeigen. Taubert hat die Arme hinter dem Rücken verschränkt und sagt ruhig: „Springen.“ Ein paar Sekunden später sagt er: „Oben hat alles geklappt, aber unten hast Du das Wasser zu spät gesucht.“

Dritter Versuch: Die Landung geht völlig daneben. Die Landung ist der neuralgische Punkt bei diesem Sprung. Seit Monaten hat sie dabei Probleme. „Sie ist nicht steil genug beim Eintauchen“, sagt Taubert. Es ist die Eintauchphase, die sie am Saltodrehgerät geübt haben.

Vierter Versuch: Sie überdreht völlig, Taubert stöhnt: „O je o je, lass es gut sein.“ Gamm geht zur Drei-Meter-Plattform. Sie springt einen zweifachen Delphinsalto gehockt. Vier Versuche, nur der dritte ist gut, beim vierten landet sie so schlecht, dass es schmerzt.

Es hat keinen Sinn, Taubert muss seine Pläne ändern. Eigentlich sollte sie vom Fünf-Meter-Turm einen zweieinhalb Delphinsalto trainieren, aber auf fünf Meter geht sie heute nicht mehr. Sie marschiert zum Ein-Meter-Brett. Dort üben Kinder; die vierfache Europameisterin Gamm wartet geduldig, bis sie dran ist.

Annett Gamm übt jetzt nur die Eintauchphase. Beim vierten Sprung sagt Taubert: „Das war technisch sehr gut. Das muss jetzt in die Rübe rein.“ Er ist zufrieden, er muss es sein, die Maßstäbe haben sich heute verschoben. „In Anbetracht ihres Zustandes“, sagt er, „hat sich das Ganze doch noch gelohnt.“

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