zum Hauptinhalt

Sport: Übers Ziel hinaus

Heike Drechsler glaubt nicht mehr an die Olympia-Qualifikation – die 39-Jährige wird ihre große Karriere beenden

Berlin - Jörg Neblung, der Manager, hatte schon so eine Ahnung. Irgendeiner wollte mit ihm am vergangenen Mittwoch über die Sponsoren von Heike Drechsler sprechen. Und über ihre Chancen auf einen Olympia-Start natürlich. Am Wochenende sind Deutsche Meisterschaften, die letzte Qualifikationsmöglichkeit. Aber Neblung sagte bloß: „Warten Sie ein paar Stunden, vielleicht startet sie ja gar nicht.“

Neblung wusste, dass Drechsler in diesem Moment ein Abschlusstraining absolvierte. Stunden später war klar: Heike Drechsler, die zweimalige Weitsprung- Olympiasiegerin, startet. Aber nur in Braunschweig. Es wird die erste Station ihrer Abschiedstournee. Das Thema Olympia ist abgehakt. Heike Drechsler sieht keine Chance mehr, die Qualifikationsnorm von 6,70 Meter zu erreichen. Ihre Saisonbestleistung liegt bei 6,39 Meter.

Heike Drechsler gibt auf. Das hat etwas mit Würde und Selbstachtung zu tun. Die 39-Jährige verhindert damit, dass sie endgültig zu einer belächelten, schlimmer noch: zu einer bemitleideten Figur degeneriert. Bei ihrem Kampf um Weiten, Titel und Anerkennung spielt sie schon lange mit hohem Einsatz: dem Respekt vor ihrer Größe. Heike Drechsler hat sich selbst mit zwei Olympiasiegen, vier WM-Titeln, zehn EM-Titeln in der Halle und im Freien (inklusive ihrer Sprinttitel) sowie mehr als 400 Sprüngen über sieben Meter ein Denkmal gesetzt. Sie hätte zur Legende werden können, wenn sie nach ihrem Olympiasieg 2000 abgetreten wäre. Diese Goldmedaille war ein Kraftakt, eine kleine Sensation. Sie war damals schon 35.

Aber Heike Drechsler hörte nicht auf. Sponsoren klopften an, die Wettkampfgagen stiegen, Autogrammjäger belagerten sie, Medien rissen sich um Interviews. Heike Drechsler war wieder der Mittelpunkt ihrer Welt. Dazu kam noch ihre Liebe zum Weitsprung. „Ich mag dieses Gefühl vom Fliegen“, sagte sie. Doch sie konnte nur noch verlieren. Jeder Sprung zementierte ein bisschen mehr das Image von einer Frau, die den richtigen Zeitpunkt zum Abschied verpasst hat. Es nützte nichts, dass sie 2002 mal 6,85 Meter sprang, es nützte nichts, dass sie die nationale Konkurrenz beherrschte. Respekt hatte man noch vor dem Menschen Drechsler. Vor dieser sympathischen Frau, die Autogrammjäger nie stehen ließ und in ihrem Wohnort Karlsruhe in einem Kaufhaus Kindern Tipps für den Weitsprung gab. Aber bei der Sportlerin Drechsler wurden jetzt penibel die schwachen Sprünge notiert.

Heike Drechsler kämpfte erbittert gegen das Bild des Auslaufmodells. „Ich weiß, wie schnell die Leute beruhigt sind, wenn sie mich gut springen sehen“, sagte sie. Und: „Wenn ich fit bin, kann ich jederzeit 6,80 Meter springen.“ Das war im Oktober 2003. Drei Monate zuvor hatte sie verletzt auf die WM 2003 verzichten müssen. Nach ihrem WM-Verzicht sagte Rüdiger Nickel, zuständig für Leistungssport beim Deutschen Leichtathletik-Verband: „Vielleicht wäre es vernünftiger für sie, jetzt etwas Sinnvolleres zu machen. Es ist ja nicht auszuschließen, dass sie es nächstes Jahr noch mal probiert.“ Die vermeintliche Fürsorge klang wie Hohn.

Heike Drechsler sprang nicht viel weiter, auch wenn sie fit war. Sie ist 39, sie hat das Aussehen einer jungen Frau bewahrt, aber nicht deren Leistungsfähigkeit. Ihr früherer Trainer und Ex-Schwiegervater Erich Drechsler sagte im Juni: „Sie hat mir Zeiten genannt, die sie über 30 Meter läuft. Danach sind allenfalls 6,50 Meter drin.“ Heike Drechsler aber sagte beim DLV-Meeting in Erfurt, auch im Juni: „Ich kann die Norm noch schaffen.“ Minuten zuvor war sie 6,38 Meter und 6,39 Meter gesprungen.

Jetzt hat sie kapituliert. Drechsler wird ihren Schlussapplaus bekommen bei diversen Meetings. Sie will auch im September beim Istaf in Berlin starten. Sie wird lächeln dazu, obwohl sie innerlich wahrscheinlich heulen könnte.

Vielleicht hat sie, instinktiv, schon lange gespürt, dass sie einem Wunschbild hinterherläuft. Es gibt ein Foto von ihr. Heike Drechsler in Sporthose und bauchnabelfreiem Trikot. Sie hat den Kopf gedreht, die Augen sind schmal, als blicke sie in die Sonne, der Mund ist verkniffen. Sie presst sich mit ausgebreiteten Armen an eine weiße Wand. Einer der Gedanken, die einem bei diesem Foto in den Sinn kommen, lautet: Das erinnert an jemanden, der im sechsten Stock auf einem schmalen Mauervorsprung steht und furchtbare Angst davor hat, herunterzufallen. Das Foto entstand 2002.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false