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Ein letztes Gruppenbild. Nach Abpfiff posierten ukrainische und deutsche Fußballer gemeinsam. Danach sollen acht Ukrainer im Konzentrationslager verschwunden sein.

© colourfield

Ukrainischer Fußballmythos: Das Spiel mit dem Tod

1942 treten Ukrainer gegen deutsche Besatzer an – ein Duell, das wohl vier Spieler mit dem Leben bezahlen und das bis heute in der Ukraine präsent ist.

Das Spiel seines Lebens hat Fritz Walter nicht 1954 in Bern gemacht. Sondern neun Jahre zuvor, der Krieg war gerade zu Ende gegangen, und Walter wartete in einem Gefangenenlager der Roten Armee im rumänischen Mármos-Sziget auf seine Deportation nach Sibirien. Beim gemeinsamen Kick mit den Wachleuten wurden diese auf ihn aufmerksam und erzählten dem fußballbegeisterten Lagerkommandanten, wen sie da gerade entdeckt hatten. Ein paar Wochen später war Fritz Walter daheim in Kaiserslautern.

Das ist eine anrührende Geschichte, und sie steht für das Bild, das sich die Deutschen von ihrem Lieblingsspiel in den Jahren des Terrors lange Zeit gemacht haben. In der Retrospektive des Zweiten Weltkriegs spielte der Fußball eine versöhnende, ja zuweilen friedensstiftende Rolle. Bekanntlich hat Sepp Herberger Länderspiele vor allem dazu genutzt, seine Nationalspieler vor der Front zu bewahren. Der Fliegeroberst Hermann Graf unterhielt zu diesem Zweck sogar eine eigene Mannschaft, die Roten Jäger, bis sein Geschwader an die Ostfront verlegt wurde. Nach dem Krieg erinnerte sich Graf: „Im Frühjahr 1942 ... lagen wir zunächst in Charkow. Charkow hatte ein wunderschönes Stadion. ... Kurze Zeit später hatte ich es fertiggebracht, daß eine Auswahl von uns gegen eine Auswahl der Panzerarmee antreten konnte. Alles klappte wunderbar. Nicht weniger als 30 000 Soldaten kamen als Zuschauer. ... Doch hatte ich Pech. Kurz vor Spielbeginn erhielt ich den telefonischen Befehl, zusammen mit drei anderen Piloten, lauter Ritterkreuzträgern, Geleitschutz für Hitlers Condor zu fliegen."

Im Sommer 1942 kommt es zum so genannten Todesspiel in Charkow

Charkow liegt im Osten der Ukraine, gar nicht weit weg von Kiew, wo am Freitag die deutsche Nationalmannschaft zu einem Testspiel antrat. Und wo es im Sommer 1942 zu einem Spiel kam, das in der deutschen Öffentlichkeit wenig bis gar nicht bekannt ist. Es ist das so genannte Todesspiel ukrainischer Fußballspieler gegen eine Mannschaft der deutschen Besatzer. Ja, es gab auch Ukrainer, die die Deutschen nach deren Invasion im Sommer 1941 als Befreier von aus der Sowjet-Herrschaft sahen. Doch wenn es so etwas wie Sympathie gegeben haben sollte, ist es damit nach den Massenmorden der so genannten Einsatzgruppen vorbei. Im September besetzen die Deutschen Kiew, in der Schlucht Babyn Jar kurz vor der Stadtgrenze werden über 33 000 Juden ermordet.

In diesem Klima der Angst tritt ein Jahr später, am 9. August 1942, eine deutsche Militärauswahl zu einem Spiel gegen die Betriebssportmannschaft einer Brotfabrik an. Fußball ist populär in der Stadt: Dynamo Kiew hat es 1936 bis ins Finale der UdSSR-Meisterschaft gebracht. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen löst sich der vom Innenministerium kontrollierte Klub weitgehend auf. Das Zenit-Stadion, in dem Dynamo seine Heimspiele ausrichtet, benennen die Besatzer um in Deutsches Stadion.

Die Soldaten ahnen nicht, dass sie es mit den besten Fußballspielern der Ukraine zu tun bekommen. Denn der FC Start, so heißt die Betriebssportmannschaft der Brotfabrik, ist eine heimliche Neugründung von Dynamo Kiew unter den Augen der Besatzer. Auch einige Spieler vom Eisenbahnerklub Lokomotive Kiew sind dabei. Der FC Start eilt in der von den Deutschen kontrollierten Liga von Sieg zu Sieg, aber als er auch noch 5:1 gegen die bis dahin unbesiegte Flak-Mannschaft der Wehrmacht gewinnt, haben die Besatzer genug. Für den 9. August 1942 wird eine Revanche angesetzt.

Der Mythos ist in der Ukraine bis heute präsent

Was genau an diesem Tag geschieht, lässt sich heute nicht mehr mit letzter Sicherheit rekonstruieren. In der sowjetischen Propaganda gilt es nach dem Krieg als gesicherte Erkenntnis, dass die Ukrainer vor die Wahl gestellt werden: verlieren oder sterben! Diese in Spielfilm und Romanen weiter gestrickte Legende kennt aber auch einen kommunistischen deutschen Soldaten, der absichtlich einen Elfmeter verschießt. Und einen sowjetischen Funktionär, der mehrere Fußballspieler in Sicherheit bringt. Beides sind nach Quellenlage Erfindungen. Tatsache aber ist, dass die Ukrainer zur Halbzeit 3:1 führen, sich offensichtlich von mehreren Warnungen nicht irritieren lassen und am Ende 5:3 gewinnen. Nach sowjetischer Lesart werden eine Woche später acht der ukrainischen Spieler verhaftet und in ein nahe gelegenes Konzentrationslager verschleppt, vier von ihnen überlebten nicht. Der Mythos des Todesspiels prägt die Nachkriegszeit in der Ukraine und ist bis heute präsent. Die Überlebenden wurden 1965 mit dem Orden des Großen Vaterländischen Krieges geehrt. Seit 1971 erinnert ein Mahnmal vor dem Dynamo-Stadion an das Todesspiel.

Das Stadion trägt heute den Namen von Waleri Lobanowski, dem langjährigen Trainer Dynamo Kiews. Dynamo spielt schon seit lange, wie auch gestern die Nationalmannschaft, im ungleich größeren Olympiastadion, wo am 1. Juli 2012 das Finale der Europameisterschaft stattfinden wird. Zu seiner Eröffnung hieß es einst Rotes Stadion und sollte schon zu Beginn der Vierziger Jahre zur neuen Heimat von Dynamo ausgebaut werden. Die feierliche Einweihung war geplant für den 22. Juni 1941. Den Tag, an dem Hitler die Sowjetunion überfiel.

Fritz Walter übrigens war am Feldzug Barbarossa nicht beteiligt. Der Mann, der später einem fußballbegeisterten Lagerkommandanten der Roten Armee sein Leben verdanken sollte, war nur pro Forma als Infanterist in Frankreich stationiert. In erster Linie war er dem kriegswichtigen Unterhaltungsbetrieb Fußball verpflichtet. Noch eine Woche vor dem Überfall auf die Sowjetunion schoss Fritz Walter beim 5:1 über Kroatien zwei Tore.

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