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Trainer retten die bewusstlose Maria Kurjo in Rostock aus dem Wasser.

© Dieter Nagel

Verunglückte Wasserspringerin: Maria Kurjo: Die Rettung ihres Lebens

Wasserspringerin Maria Kurjo streifte bei einem Salto den Beton-Turm und fiel bewusstlos ins Wasser. Seitdem hat nicht nur sie sich verändert. Eine Geschichte über Hochleistungssport und Menschlichkeit.

Maria Kurjo biegt ihren Oberkörper nach vorne, ganz langsam, als liefe alles in Zeitlupe ab. Dann presst sie ihre Hände um die Fußgelenke, verharrt eine Sekunde, drückt sich mit einer schnellen Bewegung ab und fliegt nach unten. Fünf Meter tief, ins Tauchbecken der Sprunganlage in der Schwimmhalle an der Landsberger Allee in Berlin-Hohenschönhausen. Ein Kopfsprung, einer, der ziemlich elegant aussieht, aber die Eintauchphase war nicht perfekt. Maria Kurjo weiß das, aber sie nimmt das locker. Als sie den Kopf aus dem Wasser streckt, wird das Gesicht von ihrem breiten Lachen beherrscht.

Am Beckenrand sitzt Andreas Hampel auf einem Bürostuhl und grinst karg zurück. Er ist heute nur Kurjos Aushilfs-Trainer, er vertritt Jan Kretzschmar, den eigentlichen Coach. „Ist schon okay“, sagt er bloß. Die Atmosphäre ist gelöst, keiner macht hier unnötig Stress. Ein paar Minuten später wird Maria Kurjo, die EM-Vierte von 2009 im Turmspringen, noch den zweieinhalb Salto vorwärts gehechtet springen. Und irgendwann wird Hampel rufen: „Versuch mal ein bisschen länger gehechtet zu kippen.“ Es ist Mitte Dezember, ein normaler Trainingstag. „Bei diesen Sprünge kann nichts passieren“, sagt Hampel. Ihr Kopf kommt dem Turm nicht zu nahe, meint er damit.

Am 26. Februar 2010 plumpste Maria Kurjo aus zehn Metern ins Wasser. Sie fiel wie eine leblose Puppe. Als sie im Wasser landete, zeigten ihre Füße in die Tiefe, der Oberkörper lag flach auf dem Wasser, das Gesicht war zum Beckenboden gerichtet. Maria Kurjo, Wasserspringerin vom Berliner TSC, war bewusstlos in die Tiefe gestürzt. Sie wollte beim Springertag in Rostock einen Dreieinhalb Delphinsalto zeigen, aber schon bei der ersten Drehung streifte sie mit dem Kopf die Beton-Plattform. Drei Trainer sprangen ins Wasser und schleppten sie zum Beckenrand. Zwei Tage lag die 20-Jährige auf der Intensivstation. Dort diagnostizierten die Ärzte eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde. Kretzschmar sagt: „Es war das Schlimmste, was ich je erlebt habe.“

Zehn Monate nach dem Unfall sitzt Maria Kurjo in der Cafeteria der Schwimmhalle vor einem Glas Wasser und sagt: „Ich will den Sprung wieder in meine Serie aufnehmen. Es wird das I-Tüpfelchen sein, wenn ich ihn wieder im Wettkampf zeige.“ Den Dreieinhalb Delphinsalto.

Die Geschichte der Turmspringerin Maria Kurjo, das ist die Geschichte des Schutzmechanismus, den Hochleistungssportler entwickeln und ohne den sie nicht ständig am Limit operieren könnten. Es ist aber auch die Geschichte, dass hinter dieser Mauer nichts mehr so bleibt, wie es einmal war.

Den verhängnisvollen Sprung möchte Maria Kurjo unbedingt wieder im Wettkampf zeigen

Maria Kurjo ist eine kleine Frau mit kräftigen Oberschenkel, die jetzt in einer engen Trainingshose stecken. Inzwischen ist sie 21, sie sitzt entspannt auf ihrem Stuhl, sie redet über den Unfall, aber sie redet in einem Tonfall, in dem sie auch über den Schnee in Berlin plaudern könnte. Man sucht diese kleinen Zeichen von Unruhe, diese Hinweise an schreckliche Erinnerungen. Aber man sucht vergeblich. „Es bringt nichts, wenn ich mich verrückt machen würde“, sagt sie.

Sie darf gar nicht erst gründlich nachdenken, das gehört zum Schutzmechanismus. Der Kunstturner Philipp Boy ist mal mit dem Gesicht auf die Reckstange geknallt, es tat höllisch weh, aber er hat die gleiche Übung sofort wieder geturnt. Der Ski-Abfahrtsfahrer Daniel Albrecht aus der Schweiz lag nach einem Sturz mit Schädel-Hirn-Trauma drei Wochen im Koma. Als er erwachte, hielt er eine Physiotherapeutin für seine Freundin. Aber als ihn seine Betreuer nicht schnell genug wieder auf die Piste ließen, kritisierte er sie. Michael Schumacher knallte mit 310 Stundenkilometern in Monza in einen Reifenstapel. Aber er wurde sieben Mal Formel-1-Weltmeister. Und der Wasserspringer Andreas Wels hätte sich 2001 in Berlin bei einem Sturz vom Drei-Meter-Brett fast das Genick gebrochen. Er blieb bewusstlos am Beckenrand liegen. 15 Monate später wurde er Vize-Europameister vom Drei-Meter-Brett. Wer nicht extrem verdrängen kann, wird nie mehr ans Limit gehen.

Maria Kurjo baut sich ihre Mauer mit griffigen Sätzen. „Es wird nie mehr passieren, das ist ganz sicher“, sagt sie. „Das ist wie bei einem Kleinkind, das auf die heiße Herdplatte greift. Das wird es auch nie wieder tun.“ Unfallursache war ein technischer Fehler, sie ist mit der Schulter falsch abgekippt. Der Dreieinhalb Delphinsalto ist ein Standardsprung, sie hat ihn schon hunderte Male gemacht. „Ich war übermotiviert.“ Ein Lapsus also? Sie hat keine psychologische Hilfe in Anspruch genommen.

Einen Monat nach dem Unfall ist sie schon wieder gesprungen, in Madrid und in den USA, jedesmal sind Kolleginnen und Trainer auf sie zugestürmt. „Wie war’s?“, haben sie gefragt. „Och, gar nicht so schlimm“, hat Maria Kurjo geantwortet. Sie hat ihre Schutzmauer ja vorher begonnen zu bauen, das hilft ihr jetzt. 2007 fiel sie wegen eines Kreuzbandrisses ein Jahr lang aus, danach kämpfte sie sich wieder heran. Und im November 2009 knallte sie aus zehn Metern Höhe nach einem Fehler platt auf den Bauch. Der Bauch schmerzte höllisch, die Beine waren mit blauen Flecken übersät. Zwei Wochen lange hatte sie Schmerzen, dann sprang sie weiter wie immer.

Seit 1. Dezember trainiert sie wieder voll, davor lagen Urlaub und zwei Monate Grundausbildung bei der Bundeswehr. Sie bereitet sich auch wieder auf den Dreieinhalbfachen Delphinsalto vor, ganz langsam, ganz vorsichtig. Das gibt ihr ein Gefühl enormer Sicherheit. „Herr Kretzschmar lässt mich ihn erst wieder springen, wenn er zu einer Million Prozent sicher ist, dass ich ihn beherrsche.“ Im Moment machen sie in der Schnitzelgrube Vorübungen zu dem Sprung, ab Januar dann im Wasser. Drei Monate benötigt man, um ihn perfekt zu beherrschen. Ende Februar finden in Berlin die Deutschen Meisterschaften statt, „schön wäre es, wenn ich ihn bis dahin wieder beherrschen würde“, sagt sie. Wenn nicht, dann halt nicht, die Zeit gibt sie sich.

Zehn Monate nach dem Unfall wird die 21-Jährige vom Berliner TSC bei der Berliner Sportlerwahl besonders ausgezeichnet.

© dpa

Diese Gelassenheit gehört dazu, sie ist ja nicht computergesteuert und seelenlos. „Ich habe schon Bammel, wenn ich den Dreieinhalb Delphinsalto zum ersten Mal wieder ins Wasser springe“, sagt sie. „Den Respekt zu verlieren, wäre fatal.“ Aber das ist nur die Vorstufe zur größten Herausforderung: der erste Wettkampf mit dem Sprung. Bei diesem Thema rutscht die 21-Jährige zum ersten Mal etwas unruhig auf ihrem Stuhl. Eine emotionale Grenze ist erreicht. Der Instinkt siegt über die kopfgesteuerte Reaktion. „Bei diesem Wettkampf werde ich definitiv Angst haben“, sagt sie, „nicht bloß Respekt.“ Andererseits ist dieser Wettkampf auch wieder ein besonderer Reiz. Die Therapie wäre damit entscheidend weitergekommen.

Für Trainer Kretzschmar war es das "Schlimmste, was ich jemals erlebt hatte"

Zur Therapie gehört auch, dass sich das Verhältnis zwischen Trainer und Athletin nicht verändert, grundsätzlich zumindest. Jan Kretzschmar, der Trainer, ist ein schmächtiger Mann mit grauen Haaren, der leise redet und normalerweise mit der Souveränität von jahrzehntelanger Erfahrung auftritt. „Es gibt keine Veränderung im Verhältnis zu ihr“, sagt er. „Es ist unverändert gut.“ Nicht eine Sekunde habe er daran gedacht, dass Maria Kurjo nach dem Unfall ihre Laufbahn beenden werde. „Sie ist schon eine starke Person.“ Stimmt, sagt Maria Kurjo. Und das Verhältnis zu Kretzschmar sei so wie vorher auch. „Ich erwarte nicht, dass ich einmal öfter über den Kopf gestreichelt werde als früher.“ Der Coach müsse sich ja schließlich auch noch um andere Athleten kümmern.

Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Genau gesagt haben sie ihre Arbeitsebene wieder gefunden. Doch dieser Unfall hat beide verändert, jeden auf seine Weise, er hat sie emotional näher gebracht. Das Trainer-Sportler-Verhältnis war aufgeweicht, als es nur noch zwei leidende Menschen gab. In Rostock lief Kretzschmar aus der Halle, Sekunden nachdem Maria Kurjo abtransportiert worden war. Er musste jetzt raus, er hielt dieses lähmende Entsetzen bei allen in der Halle nicht mehr aus. Er stand dann am Krankenbett von Maria Kurjo. Und erst, als sie ihn anlächelte, fiel seine größte Spannung ab.

Zwei Wochen nach dem Unfall zogen sie sich in der Schwimmhalle zu einem Gespräch zurück. Der Form nach war es ein Treffen von Trainer und Athletin, in Wirklichkeit saßen sich zwei Opfer gegenüber. Sie hatten sich in den „Grünen Salon“ verzogen, so nennen die Sportler einen nüchternen Aufenthaltsraum. Kretzschmar machte sich Vorwürfe, weil er den Unfall nicht vorausgesehen und verhindert hatte, weil er nicht erkannt hatte, dass Maria Kurjo übermotiviert war. Und die Springerin fühlte sich schuldig, weil sie ihn überhaupt erst in diese fürchterliche Situation gebracht hatte. „Es tut mir so leid“, sagte sie. Da blickte Kretzschmar sie an und sagte leise: „Du musst Dich nicht entschuldigen.“

Aber Maria Kurjo dachte permanent daran, dass ihr Trainer „tausend Tode gestorben ist“. Sie benötigte zum Entspannen genauso ein positives Bild von ihm wie Kretzschmar die lächelnde Kurjo gebraucht hatte. Vier Wochen nach dem Unfall registrierte die Athletin erleichtert, „dass es ihm wieder gut geht“. Erst dann löste sich ihr Druck.

Wenn der Athlet oben ein besonderes Risiko anpeilt, hat der Trainer keine Chance

Aber Kretzschmar wird es wohl nie mehr so gut gehen wie vor dem Unfall. Er stand dabei, als Springer Wels mit den Kopf auf das Brett knallte. „Schrecklich“, sagt er. Aber den Unfall der eigenen Athletin zu erleben, „ist noch viel schlimmer“. Kretzschmar kann in den Augen seiner Athleten lesen wie in einem Buch. Er sieht, wenn einer angespannt ist oder übermotiviert. Aber es reicht offenbar nicht. „Natürlich habe ich dazugelernt“, sagt er. „Man muss noch besser darauf aufpassen, ob es vor einem Sprung Fehlsteuerungen gibt.“ Kleine Gesten, winzige Zeichen, ob einer da oben ein Hauch zu viel Risiko eingeht oder eine Spur zu unkonzentriert ist. Das kann er steuern.

Sein größtes Problem ist, was er nicht steuern kann.

Bei Maria Kurjo hatte er keine Anzeichen für ein Risiko entdeckt. Die entschied oben in Sekundenbruchteilen, dass sie jetzt noch einen besonderen Sprung zeigen wolle. Der Trainer hatte keine Chance, diese Absicht zu erkennen. Mit diesem Wissen lebt er seit er Trainer ist, aber es war ja bisher nur ein abstraktes Wissen, es gab niemals Probleme deshalb. Doch in Rostock brach die Wirklichkeit wie ein Donnerschlag ins Leben des Jan Kretzschmar ein. Jetzt bekommt das Gefühl grandioser Machtlosigkeit eine ganz neue Bedeutung. „Dieses Gefühl von Ohnmacht, das ist schon ein großes Problem“, sagt er fast hilflos.

Es ist ein menschliches Gefühl.

Maria Kurjo sagt, dass sie „mental stärker geworden ist“ durch den Unfall. Kleinigkeiten, die früher nervten, hakt sie jetzt als Bagatellen ab. Andererseits nützen ihr die Sätze, an die sich bei ihrer Eigentherapie klammert wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring, im Extremfall nicht viel. Reagieren kann sie auf Übermotiviertheiten nur, wenn sie die auch spürt. „Aber als ich in Rostock da oben stand, habe ich nichts bemerkt.“ Hatte sie nicht gesagt: Es wird nie wieder passieren?

Maria Kurjo hat sich die Bilder von Rostock nie bewusst angeschaut. „Ich habe keine Erinnerungen an den Unfall, das schützt mich auch.“ Deshalb unterhält sie sich auch nicht mit Wels, von Opfer zu Opfer. Erstens kennt sie ihn kaum, zweitens wäre ein Gespräch eine Gefahr für ihren Schutzmechanismus. „Ich würde mich danach nicht wohler fühlen, weshalb soll ich das dann machen?“

Aber Andreas Wels würde sicher an ihrer Schutzmauer mitbauen. Nach seinem Unfall, nachdem er eingeräumt hatte, „dass ich fast gestorben wäre“, da sagte er auch: „Auf dem Brett muss man das verdrängen. Da muss sich zeigen, ob man ein Mann ist.“ So gesehen ist er einer. Minuten zuvor hatte er EM–Silber gewonnen.

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