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Die richtige Wegwerfmentalität. Christina Schwanitz hat in dieser Saison zwei internationale Meetings der Diamond League gewonnen. Am Samstag kam ihr zweiter deutscher Meistertitel nach 2011 dazu. Foto: AFP

© AFP

Sport: Vom Aschenputtel zur Prinzessin

Nach langer Leidenszeit trumpft Kugelstoßerin Christina Schwanitz in dieser Saison groß auf.

Ein paar Sorgen musste man sich schon machen, ob Kugelstoßerin Christina Schwanitz ihren Sieg bei den Deutschen Meisterschaften in Ulm gut überstehen würde. Schließlich war sie im März nach ihrem Titelgewinn bei der Hallen-EM im Überschwang der Gefühle bei der Ehrenrunde in die falsche Richtung gelaufen und beinahe über einen Startblock gestolpert. Gestern aber ging alles glatt: Nachdem ihr Sieg mit 19,76 Metern feststand, winkte Schwanitz kurz ins Publikum, packte ihre Sachen zusammen und trabte ohne Zwischenfälle aus dem Stadion.

Die 27-Jährige hätte in Ulm wohl auch mit links oder mit der schwereren Männerkugel stoßen können und wäre trotzdem noch Meisterin geworden, so sehr dominierte sie den Wettkampf. Die Athletin vom LV 90 Erzgebirge ist in diesem Jahr in neue Dimensionen vorgestoßen und damit endgültig aus dem Schatten von Europameisterin Nadine Kleinert getreten. Dem Halleneuropameistertitel aus der Wintersaison folgte Anfang Mai beim Diamond-League-Meeting in Schanghai mit 20,20 Metern der erste Stoß über die 20-Meter-Marke – im Kugelstoßen so etwas wie das Tor zur Weltspitze. Nur zwei Deutsche stießen in diesem Jahrtausend ähnlich weit: Nadine Kleinert und Petra Lammert. Ihre alte Freiluftbestleistung übertraf Schwanitz damit gleich um 89 Zentimeter. Auch beim Meeting in Oslo erzielte sie mit 20,12 Metern erneut eine Weltklasseweite.

Noch vor wenigen Jahren sah es nicht so aus, als ob aus Schwanitz noch einmal eine ganz Große werden würde. Zwar lieferte die gebürtige Dresdnerin gute Ergebnisse ab, doch beim Saisonhöhepunkt patzte sie regelmäßig. Bei den letzten Weltmeisterschaften 2011 in Daegu enttäuschte sie mit 17,96 Metern. „Wenn ich in den Ring getreten bin, war es, als ob ich das Kugelstoßen verlernt hatte“, erinnert sie sich. Seit der WM arbeitet sie nun mit einer Psychologin zusammen. „Früher dachte ich immer, dass das nichts bringt, aber sie hat mir geholfen, das Problem in den Griff zu bekommen. Ich bin jetzt wesentlich gelassener“, sagt Schwanitz. So richtig Klick gemacht habe es bei den Olympischen Spielen im vergangenen Sommer, sagt die Sportsoldatin: „Ich habe noch nie einen Wettkampf so sehr genossen wie den in London.“

Doch Schwanitz hat den Ballast der Vergangenheit nicht bloß im übertragenen Sinn hinter sich gelassen. Im November ließ sie sich sieben Schrauben herausoperieren, die sie seit 2007 in den Füßen hatte. Sie waren einst nötig gewesen, um eine angeborene Schiefstellung der großen Zehen zu beheben, doch mittlerweile scheuerten sie gewaltig. „Manchmal hatte ich wie Aschenputtel Blut in den Schuhen.“ Seit die Schrauben entfernt wurden, kann Schwanitz im Training mehr Sprints und Sprünge absolvieren und ist im Ring entsprechend explosiver geworden. Hinzu kam mehr Lebensqualität: „Seit der Operation kann ich wieder barfuß laufen oder mich auf die Leiter stellen und Kirschen pflücken.“ Und endlich könne sie auch wieder hohe Schuhe anziehen. Das trifft sich gut, schließlich will Schwanitz am 22. September heiraten, ganz traditionell mit Pumps und weißem Brautkleid. „Ich freue mich schon darauf, einmal in meinem Leben Prinzessin zu spielen.“

Vorher will sie bei den Weltmeisterschaften im August noch den Sprung aufs Treppchen schaffen. Aber vor allem die Russinnen seien schwer einzuschätzen, weil sie sich im bisherigen Saisonverlauf kaum gezeigt haben und in Moskau zudem vor heimischem Publikum antreten. Trotzdem stehen ihre Aussichten als aktuell Dritte der Weltjahresbestenliste nicht schlecht. Den Feinschliff für die Welttitelkämpfe holt sich Schwanitz gemeinsam mit David Storl, dem Kugelstoß-Weltmeister, der wie sie von Sven Lang betreut wird. „Er ist meine Motivation im Training. Natürlich weiß ich, dass er ein Mann ist und ich seine Werte niemals erreichen werde.“ Aber man könne es ja wenigstens versuchen.

Konstantin Jochens[Ulm]

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