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Sport: Vom Kopf auf die Füße

Wie sich die Sportpsychologie gegen alle Widerstände im Kreis der Nationalmannschaft Gehör verschafft hat

Günter Netzer konnte einen spitzen Aufschrei nicht unterdrücken. Im Fernsehstudio war er gefragt worden, wie er es denn finde, dass Bundestrainer Jürgen Klinsmann seinen Betreuerstab um einen Sportpsychologen erweitern wolle. Netzer strich sich mit seiner rechten Hand über die Krawatte und sagte: „Bei uns damals wäre so etwas undenkbar gewesen.“ Amerikanische Fitnesstrainer und Psychologen seien ja ganz schön, „aber dadurch werden wir nicht Weltmeister“.

Diese Episode liegt gut eineinhalb Jahre zurück. Sie zeigt, wie heikel dieses Thema in der Männerwelt Fußball ist. Dort gilt sportpsychologische Betreuung als Schwächesignal. „Dass es solche Vorurteile noch gibt, liegt unter anderem daran, dass sportkompetente Personen in der Öffentlichkeit ihre Meinungen zu dieser sensiblen Thematik äußern, ohne sich zu informieren. Sportpsychologie wird dann immer mit Psychiatrie gleichgesetzt“, sagt Hans-Dieter Hermann. Den promovierten Psychologen holte Klinsmann erstmals während der Asienreise im Dezember 2004 zur deutschen Mannschaft.

Es scheint, als musste erst einer von der anderen Seite der Welt kommen, um die eingefrästen Ansichten im deutschen Fußball aufzuweichen. Im speziellen Fall hat sich der Wahlkalifornier Klinsmann schon jetzt große Verdienste erworben, indem er beim weltgrößten Sportfachverband einige Dinge vom Kopf auf die Füße gestellt hat. Die Vorbehalte waren groß. „Eine generelle Betreuung durch Psychologen wird in der Nationalmannschaft nicht stattfinden“, sagte DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder noch im Frühjahr 2004. Zu dieser Zeit hatten die psychischen Erkrankungen der Spieler Sebastian Deisler und Jan Simak in der Bundesliga eine solche Diskussion bewirkt. Die Vorbehalte in der Bundesliga sind geblieben. Nur drei Vereine haben einen sportpsychologischen Berater fest engagiert, acht weitere Klubs kooperierten kurzzeitig, sind mittlerweile aber wieder davon abgekommen. Oft sind es die Trainer, die das ablehnen, weil sie eine Beschneidung ihrer Kompetenzen befürchten.

Andere Sportarten sind sehr viel weiter. In der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2004 in Athen haben 25 Sportpsychologen in 17 deutschen Fachverbänden gearbeitet. Das Resultat war eindeutig. Die Verbände, die eine systematische Betreuung in Anspruch genommen hatten, waren erfolgreicher als vier Jahre zuvor in Sydney. Selbst der reformunwillige Rudi Völler hatte im Endstadium als Teamchef die Hinzuziehung eines Psychologen in Erwägung gezogen. „Eigentlich gehört die seelische Betreuung zur Aufgabe des Trainers“, hatte Völler gesagt. „Die Jungs können mich auch Tag und Nacht anrufen. Aber ich frage mich: Reicht das?“

Hans-Dieter Hermann ist Dozent an der Universität Heidelberg und seit 1988 auf internationaler Ebene in vielen Sportarten aktiv. In seiner Promotion beschäftigte sich der Psychologe im weitesten Sinne mit dem Thema „Umgang mit Belastung, Stress bei Verletzungen“. Wenn der Mittvierziger beim Nationalteam ist, bleibt er im Hintergrund. „Weil ich den Job so verstehe“, sagt er. Man würde im Schein der Nationalspieler schnell eine Pseudoprominenz kriegen, „aber ich möchte nicht, dass Trainer und Spieler denken, ich würde davon profitieren wollen“. Hermann arbeitet diskret. Direkt vor und nach den Länderspielen ist er immer in der Kabine dabei. Wenn die Mannschaft trainiert, wie jetzt während der intensiven WM-Vorbereitung in Genf, steht er am Rande des Platzes. „Er ist zwar immer da, aber hält sich doch sehr zurück“, sagt Thomas Hitzlsperger und flüstert: „Aber er beobachtet alles.“

Wenn das Training der deutschen Mannschaft für die Medien offen ist, lauern zwei Hundertschaften von Journalisten auf der Tribüne. Die Nationalspieler sind in gewisser Weise abhängig von der öffentlichen Wertschätzung. „Die Spieler sollen auf die besondere Situation einer WM im eigenen Land und dem daraus resultierenden hohen Erwartungsdruck vorbereitet werden“, sagt Hermann.

Es gibt Berufskollegen von Hermann, die das von Klinsmann offen formulierte Ziel, Weltmeister werden zu wollen, skeptisch sehen. So sagte Sportpsychologe Oliver Kirchhof vor ein paar Monaten noch, dass die Spieler mit dem Druck nicht fertig würden. Und Klinsmann hätte durch seine vollmundige Ankündigung dazu beigetragen. Der ehemalige Dozent der Sporthochschule Köln mutmaßte, dass die Absicht, mit der hohen Erwartung eine Zusatzmotivation aufzubauen, bei den Spielern auf Grund der spielerischen Defizite in eine andere Richtung ginge. „Nur wenn Sportler das Gefühl haben, dass es eine Kongruenz gibt zwischen der eigenen Erfolgserwartung und der von außen, spornt sie das an.“ Klinsmanns Konter ließ nicht auf sich warten. Man dürfe sich gar nicht erst einreden, die Mannschaft könne erst 2008 ihren Zenit erreichen. „Das wäre psychologisch der falsche Weg, denn da baut man ein Alibi auf“, sagte der Bundestrainer.

Hermann bezeichnet sein Wirken als „Training im Kopf für den Kopf, denn da liegen die größten Ressourcen“. Er versteht seine Tätigkeit als Angebot in Form von Trainingseinheit und Workshops. „Wer Lust hat, kann dazukommen.“ Einzelgespräche gibt es auch, die finden aber seltener statt. „Ich habe ein solches Gespräch vor ein paar Monaten mit ihm geführt“, erzählt der Berliner Nationalspieler Arne Friedrich. Es ging um das Thema Eigenmotivation. „Ich wollte wissen, was ich tun kann, um mich selbst noch optimaler auf ein Spiel vorzubereiten. Er hat mir Handlungsempfehlungen gegeben.“

Grundvoraussetzung für Hochleistungssport ist körperliche Fitness. Für diesen Bereich ist die Trainingswissenschaft ausgefeilt, im psychologischen Bereich aber hat der Fußball Defizite. „Eine Gleichberechtigung wäre mir lieb, künftig wird dieser Bereich stärker berücksichtigt“, sagt Hermann. Mentale Stärke ist ein Mosaikstein unter vielen, die zusammengelegt den Erfolg ausmachen. „Sie ist nicht das Wichtigste, kann aber den Unterschied ausmachen“, sagt etwa Gerd Driehorst. Der Mentaltrainer aus Berlin arbeitet mit einigen Spielern von Hertha BSC zusammen. Es ginge auch darum, in Stressphasen das ganze Können abrufen zu können. „Wir nennen das den idealen Leistungszustand. Diesen zu erreichen, kann man trainieren“, sagt Driehorst. „Mentale Stärke ist ein trainierbarer Muskel.“

Einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgt auch Hermann bei den Nationalspielern. Ziel ist es, das Hirn so zu trainieren, die körperliche Leistung weiter optimieren zu können. Es geht nicht um Therapieren, sondern um Trainieren, also darum: „Wie kriege ich Dinge in den Kopf?“ Beispielsweise wird das mentale Training gekoppelt mit Videoanalysen. So entstünden „kleine, innere Filme, die man zur Konzentrationssteigerung nutzen kann“, sagt Hermann. Dies würde helfen, die Konzentrationsphase der Spieler direkt vor einem Spiel zu optimieren. Die Spieler gingen dann „in die Innenperspektive“. Ähnliches gilt in Misserfolgsfällen wie nach individuellen Fehlern oder wenn die Mannschaft in Rückstand gerät. „Wir reden keinen Spieler stark“, sagt Driehorst. Vielmehr müssten bestimmte Abläufe, bestimmte Techniken automatisiert werden. „Zu vergleichen ist das mit Autofahren-Lernen“, sagt Driehorst.

Hans-Dieter Hermann hat gut eineinhalb Jahre die Mannschaft begleitet und viele Beobachtungen zusammengetragen, die für die Trainer in ihrer Arbeit wichtig sein könnten. Etwa welche Dynamik in der Mannschaft steckt oder wie sie unter Druck reagiert. „Ich habe die Mannschaft generell als sehr stressresistent erlebt“, sagt Hermann. Er spricht von einer „Positivauswahl von deutschen Profis“. Die Spieler hätte eine hohe Charakterfestigkeit, „aber sie sind auch keine Chorknaben“. Viel Zeit bleibt nicht mehr bis zum WM-Start. „Es wird aber eine starke und selbstbewusste deutsche Elf auf dem Platz stehen.“

Vor 16 Jahren hatte Franz Beckenbauer als Teamchef einen Pfarrer zur WMt nach Italien mitgenommen, um Spieler, die es wünschten, eine Hilfe jenseits aller Fußballkompetenz anbieten zu können. Damals war die Nachfrage dürftig.

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