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Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt es nicht mehr auf den Sitzen. Der 11FREUNDE-Liveticker provozierte während der EM mehr Ekstase als Justin Bieber bei einem Gratiskonzert in der Fußgängerzone von Leer.

© AFP

Sport: Vorsprung durch Taktik

Spanien und Italien waren die stärksten Mannschaften der EM – vor allem, weil in diesen Ländern und Ligen die Schulung der Spieler am gründlichsten ist.

Nun hatte er es endgültig übertrieben. Vier Verteidiger, sechs Mittelfeldspieler, kein echter Stürmer, das konnte nicht gutgehen. Nach dem 1:1 im ersten Gruppenspiel gegen Italien wurde Spaniens Trainer Vicente del Bosque kritisiert. Nicht nur in der Heimat. Nach dem Motto: Jedes Kind wisse doch, dass es ohne Mittelstürmer viel schwerer ist, ein Tor zu erzielen. Und darum geht es nun mal im Fußball. Von einem Fehlstart des Titelverteidigers wurde gar gesprochen.

Cesare Prandelli erntete dagegen viel Lob. Er hatte nur drei Mann in der Abwehr aufgeboten, um den Spaniern im Mittelfeld fünf Spieler gegenüberzustellen. Die sollten den Raum eng machen, um so das Kurzpassspiel des Titelverteidigers zu stören. Der Plan ging auf und Italien wurde als Sieger des Unentschiedens gefeiert.

Drei Wochen später hat sich die Wahrnehmung darüber verändert. Spanien und Italien waren die besten Mannschaften der Europameisterschaft, dass sie den Titel unter sich ausmachen, ist nur konsequent. Aus taktischer Sicht haben sie das Geschehen dominiert, waren innovativ und in der Lage, auf neue Spielsituationen oder unterschiedliche Ausrichtungen der Gegner zu reagieren.

Spanien spielte im Duell mit Italien ohne echten Mittelstürmer, um den großgewachsenen und hervorragend aufeinander abgestimmten Verteidigern Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini keinen konkreten Fixpunkt zu liefern. Die Mittelfeldspieler sollten ständig in Bewegung sein und ihre Positionen wechseln, um abwechselnd in die sich irgendwann auftuenden Lücken zu stoßen.

Gegen Irland und Kroatien mit ihren langsamen Abwehrspielern bot Vicente del Bosque dann wieder den noch immer beweglichen Angreifer Fernando Torres auf, auch wenn der nicht mehr ganz so schnell ist wie noch vor vier Jahren. Nur im Halbfinale ging del Bosques Plan mit dem hüftsteifen Alvaro Negredo im Sturmzentrum nicht auf. Spaniens Trainer korrigierte seinen Fehler zur Halbzeit, als das Spiel seiner Mannschaft später noch immer statisch war, scheute er sich nicht, den Strategen Xavi vom Feld zu nehmen um mit den Flügelstürmern Pedro und Jesus Navas die portugiesische Abwehr auseinanderzureißen.

Prandelli war noch kreativer, was die Formation seiner Spieler angeht. Zu Beginn der EM, gegen Spanien und Kroatien, begann er mit drei statt der üblichen vier Abwehrspieler und ließ mit einem Mann mehr im Mittelfeld agieren. Die Taktik war aus der Not geboren, weil der zentrale Verteidiger Andrea Barzagli verletzt fehlte. Bei seiner Rückkehr stellte Prandelli wieder auf vier Verteidiger um, wechselte aber weiter munter hin und her. Bei keinem anderen Team kamen so viele Spieler zum Einsatz wie bei Italien. Del Bosque vertraute eher einem kleineren Kreis von Spielern, die aber alle in verschiedenen Systemen spielen können.

Die spanische Primera Division und Italiens Serie A sind wohl die aus taktischer Sicht interessantesten Ligen Europas. Dort herrscht noch immer ein größeres Maß an Flexibilität als anderswo.

Beim FC Barcelona versuchte Josep Guardiola in den zurückliegenden vier Jahren, das Spielsystem immer wieder so zu modifizieren, dass keine Statik entsteht. Vergangene Saison setzte er in vielen Spielen nur auf drei Verteidiger, stellte während des Spiels auf vier um und kehrte irgendwann wieder zur Dreierformation zurück. In der Offensive tauschten die Spieler so oft die Positionen, dass ihre ursprüngliche Anordnung nach wenigen Minuten nicht mehr zu erkennen war.

Auch kleinere Teams wie Betis Sevilla oder der FC Villarreal waren oft kreativ bei ihrer Ausrichtung. Sevillas Trainer Pepe Mel ließ mal im 4-5-1, mal im 4-3-3 und mal 4-4-2 spielen. Villarreal agierte oft mit zwei Mittelstürmern.

Bei der WM 2010 spielten die meisten Teams mit vier Verteidigern, zwei defensiven und drei offensiven Mittelfeldspielern und einem zentralen Angreifer. Das 4-2-3-1-System wurde Standard, in der Bundesliga spielen die meisten Teams nach diesem Muster.

An den Italienern ging dieser Trend fast komplett vorbei. In der Serie A verteidigen mehrere Mannschaften mit nur drei Verteidigern, deswegen fiel Italiens Spielern das in den ersten Spielen auch nicht schwer. Sie hatten es von klein auf gelernt. Insgesamt ist die taktische Vielfalt in Italiens Serie A am höchsten, 4-2-3-1 spielen dort nur die Wenigsten. Italiens Fußballer haben seit jeher den Ruf, taktisch am besten ausgebildet zu sein. In der Fremde tun sie sich daher oft schwer. Nachdem Italiens Weltmeister von 2006, Cristian Zaccardo, beim VfL Wolfsburg unter Felix Magath nicht zurecht kam, schimpfte er nach seiner Rückkehr. „Der deutsche Fußball ist sehr athletisch, aber in einem Jahr habe ich nicht ein einziges Taktiktraining gemacht.“

In der Geschichte des Fußballs kamen einige Innovationen aus Italien. Etwa der legendäre Catenaccio, eine Verteidigungsstrategie, bei der es darum ging, ein Tor weniger zu kassieren als der Gegner. Bevor Inter Mailands Trainer Helenio Herrera den Catenaccio einführte, versuchten die Teams eher ein Tor mehr zu schießen. Die Ausrichtung war offensiv, Herrera aber dachte defensiv. In den Achtzigern war es dann mit Arrigo Sacchi erneut ein Italiener, der mit einer Neuerung große Erfolge feierte. Er führte beim AC Mailand die Raumdeckung ein. Die Spieler sollten nicht mehr stupide ihren Gegnern hinterherrennen, sondern ihnen schon vorher den Platz nehmen. Sacchi ordnete an, dass zwischen den Verteidigern und den Angreifern nie mehr als 25 Meter Abstand sein dürfen. So machte er das Feld eng, die Gegner fühlten sich, als würden sie in einen unsichtbaren Karton gepresst.

Mit Helenio Herrera und Arrigo Sacchi verbindet Italiens aktuellen Trainer Cesare Prandelli die Leidenschaft für Taktik. In gewisser Weise ist auch er ein Revolutionär, mit zwei Stürmern nach altem Vorbild agierte bei der EM keine andere Mannschaft. Auch Vicente del Bosques 4-6-0-System war ein Unikat. Zur Belohnung erreichten beide das Finale. Teams wie Deutschland oder die Niederlande, die mit einer 4-2-3-1-Formation antraten, verfolgten das Endspiel vor dem Fernseher.

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