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Sport: Wenn ein Stück vom Leben fehlt

Von Martin Hägele Kobe. Es gibt in der Karriere eines Fußballers Szenen, die verfolgen dich ein Leben lang.

Von Martin Hägele

Kobe. Es gibt in der Karriere eines Fußballers Szenen, die verfolgen dich ein Leben lang. Es sind Augenblicke, welche die sportliche Sternstunde sein könnten - aber dann kommt ein Wimpernschlag des Schicksals und verhindert, dass einer zum Denkmal wird. Mark Wilmots wird wohl noch seinen Enkeln erzählen, wie das damals im Stadion von Kobe gewesen ist, als er und seine Teamkameraden aus Belgien den viermaligen Weltmeister Brasilien beinahe aus dem Viertelfinale geschossen hätten. Und es wird kein Märchen sein, sondern einfach ein für den Erzähler immer wieder trauriges Erlebnis, wenn er davon berichtet, wie er sich nach 34 Minuten in die Luft geschraubt hat, höher als der um einen halben Kopf größere Roque Junior, und wie er den Ball mit der Stirn an Torwart Marcos vorbei ins Netz gewuchtet hat. An jenem Tag, als Belgien dem Favoriten Brasilien 0:2 unterlag.

Wilmots hatte nach seinem Treffer gejubelt, die 40 000 vorwiegend in kanariengelbe Trikots gekleideten Anhänger der Südamerikaner waren auf einmal ganz still - bis der Schiedsrichter Peter Pendergast auf das Freudenknäuel der Belgier zugelaufen kam. Er fuchtelte mit den Armen, womit der Führungstreffer annulliert war, obwohl alle Filmaufnahmen beweisen, dass der Unparteiische den Belgiern ein klares Tor gestohlen hat. Noch peinlicher aber müssten solche Geschenke der brasilianischen Auswahl von Coach Scolari sein. Schließlich war auch der Elfmeter, der im Auftaktspiel erst den Sieg gegen die Türkei möglich gemacht hatte, ein klarer Fehler des Schiedsrichters gewesen. Wenn sich die stolzeste Fußballnation auf solch billige Weise durchs Turnier mogelt, leidet darunter irgendwann einmal die Reputation der Erben Pelés. Die Brasiliener schienen ihre Verpflichtung gegenüber ihrem Volk, das zur frühen Morgenstunde vor den Radio- und Fernsehgeräten saß, nicht ernst zu nehmen. Belgiens Kapitän Marc Wilmots lief bestimmt dreimal so viel an Kilometern wie sein Gegenüber, der angebliche Regisseur Rivaldo.

Doch dem ehemaligen Weltfußballer des Jahres reicht eben ein einziger Moment, um die übrigen 90 Minuten vergessen zu lassen. Rivaldo ließ die Flanke von Ronaldinho auf seinem Spann aufticken, drehte sich und hatte Glück, dass sein Schuss noch unhaltbar zum 1:0 abgefälscht wurde. Richtig in Feierstimmung gerieten die Kanariengelben und ihre stimmungsvollen Fans erst drei Minuten vor dem Schlusspfiff, als Ronaldo einen Steilpass des Einwechselspielers Kleberson zum 2:0 verwertete.

In diesem Moment habe er hinausgeschaut auf die brasilianische Bank, sagte Mark Wilmots, und festgestellt, wie befreit und wild die Brasilianer gejubelt hätten: „Erst da fiel die große Angst von ihnen ab.“ Ein bisschen hat dies auch dem belgischen Anführer gut getan, schließlich liefen nun die letzten vier Minuten seines siebzigsten und letzten Länderspiels ab. Andererseits aber fühlte er auch Schmerz und Trauer über die vielen vergebenen Torchancen: „Als Belgier spielst du nicht oft gegen Brasilien - und dieses Mal hätten wir sie schlagen können.“ Und weil der 33-jährige Torjäger nicht nur einer der vorbildlichsten Fußballprofis der Welt ist, sondern seine Gedanken und Empfindungen ungewöhnlich gut formulieren kann, hat er den Journalisten noch einen Satz hinterlassen, der schon fast an Poesie grenzt: „Dieses Tor, das tut so weh, das war ein Stück von meinem Leben." Dieses Stück vom Leben fehlt ihm nun.

Das Zitat wird heute wohl auch in den englischen Zeitungen stehen, so viele englische Journalisten hatten das Spiel gesehen. Zudem beobachtete auch die halbe englische Nationalelf die Brasilianer; und wenn Beckham, Owen und Co. am Freitag im Viertelfinale an jenen brüchigen Stellen in Brasiliens Abwehrverband weiterbohren, wo Wilmots und der junge Mbo Mpenza angefangen haben, dann wäre es keine große Überraschung, wenn der Turnierfavorit Nummer eins das Los seiner Vorgänger Frankreich und Argentinien teilen würde. Den Belgiern aber fällt zumindest momentan der Blick zurück schwer. Er werde im Urlaub sein, aber ganz gewiss schaue er sich dieses Spiel nicht im Fernsehen an, sagte Nico van Kerckhoven. „Sonst kommt die Enttäuschung erst recht wieder hoch."

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