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Seinem Konterfei in Chemnitz nach zu urteilen, wäre Karl Marx auch Fan.

© dpa/Jan Woitas

Willmanns Kolumne: Vom richtigen Fansein

Laute Fangesänge und Angst vor "Schwulenliebe", Kuchen-Büffet in Dortmunds Premiumlounge oder Bolzen im Humboldthain. Wo sind denn die richtigen Fans?

Gestern sinnieren in Berlin: Hurra, Union meldet seine zweite Mannschaft aus der Regionalliga Nordost ab. Endlich verschwinden nach und nach die Fußballvereitelungskonstrukte wieder. En passant bleibt Berlin nun das Derby zwischen Union und dem BFC Dynamo erst mal erspart.

Des Nächtens Fettleber in Dortmund: Heiland Klopp beweist allen Nichtborussen, die Erde ist doch keine Kugel. Der steinalte Kehl rettet den BVB ins Halbfinale des DFB-Pokals.

Heute tiefes Glück beim Bonzenklub in München: Hummels, Reus, Ronaldo, Messi, Neymar, Erich Mielke und der Yeti wechseln in die Stadt des Nobelpreisträgers Uli Hoeneß.

Im traurigen Alltag praktiziert das geneigte Einzelwesen das Prinzip des "Leben und Leben lassen". So hält man sich unnötigen Ärger vom Hals und erhält sich einen respektablen Platz in der Mitte der Gemeinschaft. Von allem ein bisschen Naschen, aber immer Maß halten! Bisweilen fordert jedoch die Sehnsucht nach dem hefeteigähnlichen Aufgehen in der Masse ihren Tribut. Meist zeigt sich diese Erscheinung am Wochenende, gern im Zusammenhang mit einem Spiel des Lieblingsvereins. Vorm Stadiontor sind alle Menschen gleich. Wenn der Fußball ruft, legt sich das Großhirn gern schlafen, und der Instinkt des Jägers und Steckenpferdbetreibers übernimmt die Regie. 

Infantilismus unter Fußballheteros

Der Fußball lebt von Emotionen, wird uns im Fernsehen mitgeteilt. Die Fußballverwerter möchten am Fernseher eine heile Welt verkaufen. Massenkompatibel, für alle zwischen neun und neunundneunzig. Und am Ende der Saison verleiht die Bundeskanzlerin die Bratkartoffeln mit Heringsschwanz. Doch wenn, wie letzten Samstag in Chemnitz, „Schwulenliebe ist okay, Zwickau und die SGD“ als Verspottung des Dresdner Gegners im MDR gesungen wird, ist das kein Ausdruck von Toleranz. Der Fernsehkommentator, der wahrscheinlich schon morgen die DFB-Antidiskreminierungsgala in der Semperoper einfühlsam moderiert, hielt in Chemnitz fein die Klappe.

Ich drehte den Tonregler hübsch nach oben, nicht mal ein verstörtes Hüsteln oder blödsinniges Hinweglabern war zu hören. Ich fragte mich, ob man für den gut berappten Job eines Fußballmoderators bestimmte Fähigkeiten benötigt. Wir alle kennen die Skulptur der drei Affen. Dachte er womöglich, die Cantos wären der Ausdruck eines tiefen Verständnisses der Sänger für das Empfinden aller Homosexuellen? Ein Solidarpakt mit den Diskriminierungsopfern stammesbewusster Knallkörper? Wobei hier nicht der Eindruck entstehen soll, das wäre ein typisch Chemnitzer Gesang. Die vom Fußballhetero gefürchtete "Schwulenliebe" ist im Fußball überall anzutreffen. Auf die Schnelle ein paar Beispiele: laut RB Leipzig findet sich "Schwulenliebe" bei  "…RWE und HFC", laut Zwickau "…Frankfurt und die BSG". Wuppertaler meinen "BVB liebt den RWE" und Duisburger finden "Bayern schwult mit dem VfL Bochum". Man könnte das unter Infantilismus abtun, wenn es nicht ein Lackmustest aller beim Fußball ausgeschalteten Hirne wäre. Und bitte sagt mir nicht, bei etlichen Sportfreunden sei der Schalter seit langem irreparabel. 

Kaffee und Kuchen in der Nordkurve

Anfang Dezember 2014 besuchte ich auf Einladung der Spezialchemiker von Evonik Industries das Bundesligaspiel zwischen Dortmund und Hoffenheim. Ich nahm Platz auf der Nordtribüne. Vor dem Spiel hieß es futtern im ausgedehnten Vip-Bereich. Gepflegter Mittelstand, zumeist geladen von Dortmunds Premiumsponsoren. Rechts und links schlanke Hostessen. Sie lächelten ihr schönstes Lächeln und boten mir diverse Geschenke der Sponsoren an.  Ich reihte mich in die Schlange vorm Büffet. Keiner schubste, drängelte oder furzte aufgeregt mit roten Backen, niemand verkleckerte sein Bier. Der Fußball der Zukunft. Ein trügerisches Erlebnis. Gegenüber stand die gelbe Wand und sang unbeeindruckt ihre Lieder. Wir auf unseren Sitzplätzen wischten uns verstohlen die Essensreste aus den Mundwinkeln. In der Halbzeitpause gab es Kaffee und Kuchen, den ich auf keinen Fall verpassen wollte.

Individualitätsgefühl durch Menschenferne hieß am Sonntag mein mir selbst abgerungenes Versprechen. Immer diese misanthropen Neigungen, immer dieses Irren von Mastbaum zu Mastbaum. Ich joggte elegant zum Humboldthain. Dort tummelten sich an der frischen Luft eine Vielzahl junger und alter Flitzpiepen. Sie gaben sich ganz dem Fußball hin. Pures Spiel, Lust am Ballgetändel, schwitzende Leiber auf den Trümmern des alten Berlins. Fast lautlos schwebte ein schmächtiger türkischer Junge über die Wiese. Er tanzte den ersten aus, narrte den zweiten, schob dem dritten den Ball durch die Beine, um letztlich vom vierten aufgehalten zu werden.

O Freudentaumel, zieh durch das Land, vom Landwehrkanal bis zum Bolzplatzrand.

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