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Noch mit Schuh: Leonidas (links) schießt gegen Polen bei der WM 1938 eines seiner zwei Tore in der Verlängerung für die Brasilianer, die am Ende 6:5 gewinnen.

© AFP

WM-Serie "Brasiliens Ballfieber", Folge 1: Mal barfuß, aber oft auch brotlos

Bei den ersten drei Fußball-Weltmeisterschaften schlagen sich die Brasilianer oft selbst. In der ersten Folge unserer WM-Serie blicken wir zurück auf die Anfänge der „Seleção“ - und ihren Kampf gegen Rassismus und Überheblichkeit.

Brasilien ist Fußball und der Fußball ist Brasilien. So ist es eigentlich schon immer gewesen, jedenfalls in der Vorstellungswelt der Allgemeinheit. Dabei ist brasilianische Erfolgsgeschichte recht jung, sie beginnt erst in den späten Fünfziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts. Davor geben andere Nationen den Ton an. Im Südamerika der Gründerzeit heißen die Fußballmächte Argentinien und Uruguay.

Vor allem die Uruguayer kommen wie eine Erscheinung über die Fußball-Welt. Als sie bei den Olympischen Spielen in Paris 1924 mit ihrem technisch vollendeten Spiel begeisterten, staunt das Publikum über die erstmals vorgestellte Erfindung des Doppelpasses, die Kombinationen über mehr als drei Stationen, die zauberhaften Dribblings des Dandys José Leandro Andrade. Andrade ist der erste Weltstar des Fußballs. Und er ist schwarz. Dass so einer überhaupt mitspielen darf, ist für die eben nur vermeintlich aufgeklärten Europäer eine Ungeheuerlichkeit.

Auch die Brasilianer tun sich noch schwer mit der Vielfalt ihrer Nation. In den großen Klubs von Rio und São Paulo sind schwarze Spieler lange Zeit nicht zugelassen. Andrade ist in Uruguay schon ein Star, da ordnet Brasiliens Staatspräsident Pessoa 1921 den Ausschluss aller Nichtweißen aus der Nationalmannschaft an.

Brillantine und Reismehl

Nach einem Jahr muss er unter öffentlichem Druck die Entscheidung zurücknehmen, weil sich das weiße Brasilien bei der Copa America in Argentinien schwer blamiert. Der beste brasilianische Fußballspieler dieser Pionierzeit ist der Sohn einer schwarzen Wäscherin aus São Paulo. Artur Friedenreich darf nur deshalb bei Germania São Paulo mitspielen, weil er über seinen aus dem Spreewald eingewanderten Vater als deutscher Staatsangehöriger gilt.

Friedenreich glättet sich vor jedem Spiel das krause Haar mit Brillantine und bleicht sich die Haut mit Reismehl. Die erste Weltmeisterschaft 1930 in Uruguay verpasst er, weil nach Streitigkeiten innerhalb des Verbandes fast alle Spieler aus São Paulo gesperrt sind. Also tritt Brasilien die Reise zu dem kleinen Nachbarn mit einer besseren Stadtauswahl von Rio de Janeiro an und scheidet schon in der Vorrunde aus. Fluminenses Stürmer Pregutinho schießt beim 1:2 gegen Jugoslawien das erste Tor der brasilianischen WM-Geschichte.

1934 steht Arthur Friedenreich kurz vor seinem 42. Geburtstag und ist zu alt für einen Platz im Aufgebot für die WM in Italien. Dass die Brasilianer dennoch in Siegeslaune anreisen, liegt an ihrem neuen Star Leonidas da Silva. Der Stürmer von Vasco da Gama wird daheim als „Schwarzer Diamant“ gefeiert. Aber die Brasilianer wissen wenig vom europäischen Fußball und der dort gepflegten Kunst der Verteidigung. Im Achtelfinale von Genua stürmen sie munter drauflos und sind gegen Spanien drückend überlegen – und liegen doch nach einer halben Stunde nach Kontertoren 0:3 zurück. Danach verbarrikadieren die Spanier sich in ihrer eigenen Hälfte und gestatten den Brasilianern nur ein Tor, Leonidas erzielt es zu Beginn der zweiten Halbzeit. Waldomiro verschießt noch einen Elfmeter, und dann ist der selbst ernannte WM-Favorit auch schon ausgeschieden.

Leonidas, der "schwarze Diamant"

Auch vier weitere Jahre später bei der Weltmeisterschaft in Frankreich scheitern die Brasilianer in ausgesuchter Schönheit, diesmal aber auch ein wenig an ihrer Überheblichkeit. Beides ist eng mit Leonidas verknüpft. Mit 24 Jahren steht er in der Blüte seiner Schaffenskraft. Das Stade de la Meinau von Straßburg erlebt im Achtelfinale das spektakulärste Spiel des Turniers. Nach 90 Minuten steht es zwischen Brasilien und Polen 4:4. Der Deutsch-Pole Ernst Willimowski hat drei Tore erzielt und in der Verlängerung gelingt ihm noch ein viertes, aber der Mann des Tages ist Leonidas. Erst gelingt ihm das 5:4, dann verliert er im Regenmatsch einen Schuh, was ihn allerdings nicht daran hindert, barfuß und mit Urgewalt auch noch das sechste Tor nachzulegen.

Am Ende gewinnt Brasilien 6:5. Jetzt wartet im Viertelfinale von Bordeaux die Tschechoslowakei, der WM-Zweite von 1934. Wieder trifft Leonidas, aber nach dem Ausgleich von Oldrich Nejedly und einer torlosen Verlängerung muss ein Wiederholungsspiel her. Mit zwei Toren schießt Leonidas seine Mannschaft ins Halbfinale.

Was jetzt geschieht, geht als eine der größten Fehleinschätzungen in die WM-Geschichte ein. Brasiliens Trainer Ademir Pimenta hält seine Mannschaft für so stark, dass er den erschöpften Leonidas im Halbfinale schonen will für das sicher geglaubte Endspiel. Das ist schon ein wenig überheblich, denn der Halbfinalgegner ist immerhin der amtierende Weltmeister Italien. Ohne Leonidas fehlt Brasiliens Schönheit die finale Wucht. Italien gewinnt 2:1 und später auch das Endspiel gegen Ungarn.

Zum Spiel um Platz drei ist der ausgeruhte Leonidas wieder dabei und schießt zwei Tore zum 4:2 über Schweden. Er wird zum besten Spieler des Turniers gewählt und steigt daheim auf in die höhere Gesellschaft, aber die höchsten Weihen der Fußball-Welt bleiben ihm für immer verwehrt. Ein Jahr später bricht in Europa der Krieg aus und die Jugend der Welt schlägt ihre Schlachten nicht mehr auf Fußballplätzen. Es wird zwölf Jahre dauern bis zur nächsten WM.

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