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Sport: Wo die Grätsche Kult ist

Jamie Carragher soll dazu beitragen, dass Liverpool heute gegen Mailand die Champions League gewinnt

Eines der Lieblingslieder des Kop, der legendären Tribüne der treuesten Liverpool-Fans, ist „Yellow Submarine“ von den Beatles. Allerdings mit leicht verändertem Text. „We want a team of eleven Carraghers, eleven Carraghers“, wir wollen ein Team mit elf Carraghers, wird dort gerne mal intoniert. Jamie Carragher bringt der Gesang stets ein bisschen in Verlegenheit. Der 29-Jährige ist nämlich Innenverteidiger beim FC Liverpool, und eine Mannschaft mit elf Innenverteidigern würde ihn als Freund des gepflegten Balles eher nicht begeistern.

„Der AC Mailand ist meine europäische Lieblingsmannschaft“, hat Jamie Carragher in der „Legends Lounge“ des Stadions den staunenden Reportern erzählt, die eigentlich lieber eine deutliche Kampfansage an den heutigen Gegner der Liverpooler im Finale der Champions League (20.45 Uhr, live bei DSF und Premiere) gehört hätten. „Es ist halt so“, zuckt Carragher nur mit den Schultern. Er hat da kein Problem, ehrlich zu sein.

Natürlich ist die Sache mit den elf Carraghers ein Spaß. Aber an der Anfield Road meint man es auch ernst. Carra, wie ihn die Fans rufen, ist nämlich neben Kapitän Steven Gerrard der einzige echte Liverpooler in der Stammelf, und der absolute Lieblingsspieler bei den Anhängern. Für seinen bedingungslosen Kampfgeist wird er vergöttert. Eine Szene aus der Verlängerung des Champions-League-Finales vor zwei Jahren, damals auch zwischen Liverpool und Milan, ist fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Carragher, von Krämpfen geschüttelt, hechtete scih mit dem letzten Quäntchen Energie in zwei Mailänder Schüsse und hatte damit großen Anteil am fünften Liverpooler Erfolg im europäischen Meistercup. Zur Pause hatten die Reds 0:3 gegen Milan zurückgelegen, in der zweiten Halbzeit glichen sie zum 3:3 aus, am Ende siegte Liverpool im Elfmeterschießen.

Als „23 Carra Gold“ rühmen sie den Mann mit der 23 auf dem Rücken. „Er ist der Kapitän ohne Armband“, hat Gerrard über seinen Kumpel gesagt. Dazu passt, dass Uefa-Präsident Lennart Johansson bei der Siegerehrung des dramatischen Finales die Trophäe um ein Haar Carragher in die Hand gedrückt hätte. Er hatte ihn ganz einfach verwechselt.

Die „Sunday Times“ hat kürzlich gemutmaßt, ob der Mann als Baby die Hebamme im Kreissaal abgegrätscht hat. Mit seinem sich selbst nie schonenden Einsatz hat er sich längst einen Platz in der Vereinsmythologie gesichert. Grenzenlose Opferbereitschaft ist in der Leidensgemeinschaft Liverpool ein bedeutsames Kriterium: Die 96 Fans, die 1989 bei einer Massenpanik in Sheffield ums Leben kamen, werden in Anfield als Märtyrer für die rote Sache verklärt. Man lässt sich überhaupt gerne von der eigenen Ergriffenheit übermannen, auch wenn der Rest Englands dann etwas indigniert die Nase rümpft. Seit dem Abbau der Zechen vor 20 Jahren fühlt man sich ohnehin verlassen und benachteiligt, in jedem Triumph schwingt so eine Menge Trotz mit.

Carragher ist sich des heiligen Ernsts seiner Aufgabe bewusst. Im Gegensatz zum latent miesepetrigen Gerrard hat er sich seine Lockerheit bewahrt. Als junger Spieler zog er einst jede Nacht um die Häuser und erregte bei der Weihnachtsfeier Aufsehen: Er war als Glöckner von Notre Dame verkleidet und konnte vor versammelter Mannschaft nicht den Reizen einer Stripperin widerstehen. In der Nacht nach dem Halbfinalsieg gegen den FC Chelsea wurde er um fünf Uhr früh in einem dieser Imbissläden unweit vom Stadion entdeckt, in denen Blut, Schweiß und Tränen von 100 Europokalnächten am Boden kleben. Die Carraghers sind dafür bekannt, das Beste aus dem Leben zu machen. Zwei seiner Brüder verließen die englische WM-Unterkunft im vergangenen Sommer mit Ballen von Hotelhandtüchern unter den Armen.

Carragher wird nach dem Finale einen neuen Fünfjahresvertrag unterzeichnen und seine Karriere an der Anfield Road beenden. Carragher ist die Seele und das Rückgrat einer Mannschaft, die in Europa konstant über ihre Verhältnisse spielt. „Liverpool ist sehr gut organisiert und hat eine außerordentliche Fähigkeit, sich zu konzentrieren“, sagt Milans Trainer Carlo Ancelotti.

Auch für Carraghers Geschmack ist die Defensive eine Spur zu stilbildend. „Manchester United und Chelsea sind bessere Mannschaften“, gibt er zu, „uns fehlt in der Liga ein wenig die Durchsetzungskraft und die Geschwindigkeit.“ In Europa, wo kleinlicher gepfiffen wird, könne man dieses Defizit jedoch mit Taktik und Köpfchen ausgleichen, sagt er. Wie gut er das macht, fällt schon dadurch auf, dass er nicht auffällt: Im laufenden Wettbewerb hat er ganze sieben Fouls begangen und kein Gelb gesehen.

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