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Gewerkschaften in Deutschland.

© dpa

1. Mai: Gewerkschaften - und sie mobilisieren doch!

Die Bindekraft großer Organisationen lässt nach. Trotzdem bringen die Gewerkschaften zum 1. Mai 400 000 Demonstranten auf die Straße. Wie machen sie das?

Bemerkenswert ist der Vergleich, der Wolfgang Schroeder auf die Frage einfällt, ob die Demonstrationen und Kundgebungen am 1. Mai noch ihren Sinn haben. „In den Gottesdienst am Sonntag gehen auch weniger Menschen als früher – trotzdem käme niemand auf die Idee, ihn abzuschaffen“, sagt Schroeder, der als Leiter des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften an der Universität Kassel zu den renommiertesten Gewerkschaftsforschern in Deutschland zählt. „Menschen brauchen Traditionen und Rituale, auch und gerade in den Gewerkschaften“, ist Schroeder überzeugt.

Unter dem etwas ungelenken Motto „Zeit für mehr Solidarität“ ruft der DGB auch in diesem Jahr in mehr als 470 Städten und Gemeinden zu Demonstrationen, Kundgebungen und Familienfesten auf. Passt das noch in Zeiten von Online-Petitionen und sozialen Netzwerken? Oder pflegen die Gewerkschaften ein Ritual, das mehr und mehr seinen Sinn verloren hat? „Natürlich ist es zeitgemäß, dass der 1. Mai von Gewerkschaften gefeiert wird“, sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann und verweist auf die mehr als 125 Jahre alte Tradition. Die Feiern und Kundgebungen seien „ein wichtiger politischer und gesellschaftlicher Hinweis darauf, dass Arbeitnehmerrechte nicht vom Himmel fallen“. „Mit Stolz“ feiere man an diesem Tag die eigene Arbeit und die eigenen Erfolge, von denen schließlich jeder Arbeitnehmer profitiere: „Wer glaubt, dass Standards wie der Acht-Stunden-Tag, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Mindestlohn Bestand haben würden, ohne dass Gewerkschaften sich dafür einsetzten, der irrt.“

Traditionspflege und Gemeinschaftsgefühl

Obwohl sich die Gesellschaft immer weiter fragmentiert, funktioniert die gewerkschaftliche Mischung aus Traditionspflege, Machtdemonstration und Gemeinschaftsgefühl noch immer recht gut. Zwar gingen nach DGB-Angaben die Teilnehmerzahlen an den 1.-Mai-Kundgebungen in den vergangenen fünf Jahren um etwas mehr als zehn Prozent zurück, von knapp 450 000 im Jahr 2010 auf etwas mehr als 400.000 Personen im vergangenen Jahr. Doch der Schwund ist nicht so dramatisch, dass man in den Gewerkschaften auf die Idee käme, die vielfältigen Aktionen infrage zu stellen. In den 1980er Jahren, zu Zeiten des Kampfs um die 35-Stunden-Woche, zählten die DGB-Kundgebungen in der alten Bundesrepublik allerdings noch fast eine Million Teilnehmer. Doch selbst wenn die 400.000er-Marke in diesem Jahr zum ersten Mal verfehlt werden sollte, gibt es nur wenig andere Anlässe, zu denen so viele Menschen an einem Tag für eine gemeinsame Sache auf die Straße gehen.

„Ganz Deutschland war beeindruckt, als im Oktober bis zu 250.000 Menschen in Berlin gegen das geplante Freihandelsabkommen TTIP demonstrierten“, sagt Christoph Schmitz, Leiter der Grundsatzabteilung bei der Gewerkschaft Verdi. „Die Gewerkschaften schaffen es immerhin Jahr für Jahr, mehr als 400.000 Menschen auf die Beine zu bringen.“ Schmitz gibt zwar zu, dass die Kundgebungen in ganz Deutschland stattfänden und daher nicht ganz mit der TTIP-Demonstration an nur einem Ort zu vergleichen seien. Doch den Stolz auf die Feiern zum 1. Mai will sich auch der enge Vertraute von Verdi-Chef Frank Bsirske nicht nehmen lassen. „Dieser Tag ist sehr wichtig für uns, denn er gibt uns die Möglichkeit, unsere Forderungen und Werte vor einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.“ Um attraktiv zu bleiben, bemüht sich der DGB aber auch, nicht nur die Nostalgie zu pflegen, sondern mit der Zeit zu gehen. Der Aufruf zum diesjährigen 1. Mai in Berlin kündigt neben dem Demonstrationszug vom Hackeschen Markt zum Brandenburger Tor auch einen Motorrad- Korso, einen Fahrrad-Korso und eine Skating-Demo an. Und nach der Kundgebung gibt es dann auf der Straße des 17. Juni ein großes Familienfest, bei dem der DGB wie in den Vorjahren mit mehr als 20 000 Besuchern rechnet.

„Es reicht nicht, immer nur allein zu Hause vor dem Computer zu sitzen“, sagt Verdi-Stratege Schmitz. Gerade in Zeiten des Internets sei es wichtig, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern das Wir-Gefühl und die persönlichen Kontakte zu fördern. Zudem verweist er auf die Pegida-Demonstrationen und das Erstarken der AfD: „Wir haben die Aufgabe, dem auch auf der Straße etwas entgegenzusetzen.“

Für den Wissenschaftler Wolfgang Schroeder, der von 2009 bis 2014 seinen Lehrstuhl ruhen ließ und Staatssekretär für Arbeit und Soziales in Brandenburg war, ist die Resonanz in den Medien ebenfalls ein wichtiger Aspekt des 1. Mai. „Wenn man vormittags auf einer Kundgebung war und abends einen Bericht darüber im Fernsehen sieht, freut man sich zumeist.“ Tatsächlich gelingt es auch hochrangigen DGB-Funktionären sonst nicht so häufig, zur besten Sendezeit ins Fernsehen zu kommen. Am 1. Mai gehört die Berichterstattung über die Gewerkschaftskundgebungen mit einem Ausschnitt aus der Rede des DGB-Vorsitzenden aber zum Pflichtprogramm aller wichtigen Nachrichtensendungen.

Flagge zeigen

Die Arbeitgeber stehen den Demonstrationen und Kundgebungen am 1. Mai naturgemäß etwas distanziert gegenüber. Der damalige Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, polterte vor einigen Jahren sogar, dass der Tag der Arbeit nur noch „Folklore“ sei, da die Metall- und Elektroindustrie die meisten Forderungen der Gewerkschaften längst umgesetzt habe. Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander äußerte sich jetzt etwas zurückhaltender: Der 1. Mai sei für die Beschäftigten längst „vom Kampftag zum Feier-Tag geworden“ und „die Zeit der Massendemonstrationen lange vorbei“.

Zu denjenigen, die sich auf den 1. Mai ganz besonders freuen, gehört Fatih Özbulut. „Tierischen Spaß“ hätten ihm schon in den vergangenen Jahren die Kundgebung und das anschließende Zusammensein mit anderen Gewerkschaftern gemacht, sagt der 27-jährige Industriemechaniker aus dem Mercedes-Benz-Werk in Berlin-Marienfelde, der in seinem Betrieb auch Jugendvertreter der IG Metall ist. „Für mich ist es vor allem wichtig, Kollegen aus vielen Berliner Betrieben zu treffen.“

Das sieht auch Katja Prußat so. Die Industrieverkäuferin bei der Firma MAN Diesel und Turbo in Tegel freut sich auch sehr darauf, an diesem Tag eine Gewerkschaftsfahne zu schwenken. „Ich stehe dazu, Flagge zu zeigen, und finde, gerade in der heutigen Zeit sollten das noch viel mehr Menschen tun.“ Für sie ist in diesem Jahr vor allem das Engagement gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wichtig. „Wir dürfen den Rechten die Straße nicht überlassen“, verlangt die 36-jährige Industrieverkäuferin.

Auch der DGB legt diesmal in seinem Aufruf eine besondere Betonung auf die Situation der Flüchtlinge und den Kampf gegen Rechtsradikalismus. „Hunderttausende sind vor Krieg und Terror zu uns geflüchtet. Sie treffen hier viel zu oft auf Hass und Menschenfeindlichkeit. Dagegen wenden wir uns entschieden – die Antwort heißt Integration in Arbeit und Gesellschaft, nicht Ausgrenzung!“, heißt es in dem Appell. „Der 1. Mai ist unser Tag der Solidarität und kein Ort für Nazis und Rechtspopulisten.“ Wenn dann am Abend diese und auch andere Botschaften der Gewerkschaften zu hören sind, werden sich nicht nur DGB-Chef Reiner Hoffmann, sondern auch Fatih Özbulut und Katja Prußat freuen.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 26. April 2016, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

Joachim Riecker

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