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Die Arbeitgeber wollen den Mindestlohn so gering wie möglich anheben.

© Sebastian Kahnert/dpa

Lohnuntergrenze: Kommt die Mindestlohn-Erhöhung?

Am Dienstag entscheidet die zuständige Kommission über die erste Anhebung des Mindestlohns. Es geht um Einfluss, viel Geld – und eine entscheidende Sekunde.

Reinhard Göhners letzter Kampf geht um die juristische Sekunde. Und er geht ums Geld. Göhner ist der Spielführer der Arbeitgeber beim Gezocke um die künftige Höhe des Mindestlohns. Mit der juristischen Sekunde wird ein Stichtagsproblem umschrieben, im konkreten Fall der 30. Juni. Alle Tarifabschlüsse, die vom 1. Januar 2015 bis zum 30. Juni 2016 wirksam werden, fließen in den statistischen Tarifindex ein, der die Grundlage liefert für die Erhöhung des Mindestlohns zum 1. Januar 2017. Und die soll für die Arbeitgeber so niedrig ausfallen wie möglich.

In der Metallindustrie, der wichtigsten Branche hierzulande, vereinbarten die Tarifparteien Mitte Mai eine Erhöhung um 2,8 Prozent – aber erst ab dem 1. Juli. Göhner zufolge fließen diese Prozente nicht in den Tarifindex ein. Die Gewerkschaften halten dagegen. Wegen einer Sekunde, so argumentiert Stefan Körzell, der für den DGB in der Mindestlohnkommission sitzt, dürfe man den Beschäftigten kein Geld vorenthalten. Allein die 2,8 Prozent der Metaller machen vier Cent in der Stunde aus. Das sind 32 Cent am Tag, ungefähr 6,70 Euro im Monat und 80 Euro im Jahr. Bei vier Millionen Beziehern geht es um 320 Millionen Euro – für die Arbeitgeber oder die Arbeitnehmer. Der Streit lohnt sich also.

Am Dienstag entscheiden die sieben stimmberechtigten Mitglieder der Kommission erstmals über die Erhöhung des Mindestlohns und werden der Regierung Bericht geben über die bisherigen Erfahrungen mit der Lohnuntergrenze. In dem ehrenamtlichen Gremium sitzen auf der Arbeitgeberbank neben Göhner, dem Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), noch Valerie Holsboer (Chefin der Verbände aus der Gastronomie und der Ernährungsindustrie) und Karl-Sebastian Schulte (Geschäftsführer des Handwerks). Die Gewerkschaften werden vertreten von Michaela Rosenberger, Vorsitzende der NGG (Nahrung, Genuss, Gaststätten), Robert Feiger, Chef der IG BAU, und DGB-Vorstand Körzell. Als Vorsitzenden haben die Sozialpartner Jan Zilius bestimmt. In einer Pattsituation hat er die entscheidende Stimme.

Reinhard Göhner macht nicht viele Fehler

Zilius ist 70 Jahre alt und Jurist. Er hat für die IG BCE gearbeitet und im Energiekonzern RWE. Zilius versteht beide Seiten. Für den Job an der Spitze der Kommission hat ihn Verdi-Chef Frank Bsirske vorgeschlagen. Bsirske sitzt seit Jahren im Aufsichtsrat von RWE. Und Bsirske hat ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Göhner: Die beiden waren vor sechs Jahren die Protagonisten eines Gesetzes über die Tarifeinheit. Göhner willigte in Bsirskes Vorschlag ein, Zilius wurde Kommissionschef. Nach dem 28. Juni wird er wissen, ob das ein Fehler war.

Göhner macht nicht viele Fehler. Kein anderer hauptamtlicher Arbeitgebervertreter war in den vergangenen 20 Jahren so einflussreich wie er. Ende Juni ist Schluss, dann konzentriert sich der 63-Jährige aus Ostwestfalen auf die Pferdezucht. Göhner hat mitgemischt, als sich im Herbst 2013 schwarz-rote Politiker und Sozialpartner bei den Koalitionsverhandlungen auf einen Deal verständigten: Die Gewerkschaften bekommen den Mindestlohn von 8,50 Euro und die Arbeitgeber ein Gesetz über die Tarifeinheit, mit dem Berufs- oder Spartengewerkschaften an die Kette gelegt werden. Nun geht es um die Erhöhung des Mindestlohns.

Aus der Sicht eines Statistikers ist das ganz einfach: Man nehme die Tarifabschlüsse aus 2015 und dem ersten Halbjahr 2016, gewichte die Lohnprozente entsprechend ihrer Bedeutung (Zahl der Beschäftigten) und errechne so einen Tarifindex. Diesen Index nimmt dann die Kommission und empfiehlt der Regierung die Erhöhung. Mit dem jüngsten Abschluss im öffentlichen Dienst (2,4 Prozent für mehr als zwei Millionen Beschäftigte ab März) beträgt der Tarifindex 3,9 Prozent; 3,9 Prozent von 8,50 Euro sind 33 Cent, sodass eine Erhöhung des Mindestlohns auf 8,83 Euro angesagt wäre. Und dann ist da noch die Metallindustrie mit ihren 2,8 Prozent. Rechnen die Statistiker diese Prozente mit, dann steigt der Mindestlohn um 37 Cent auf 8,87 Euro. Da so eine krumme Zahl selbst den Arbeitgebern peinlich wäre, könnte man auf 8,90 Euro aufrunden.

Das Problem mit der statistischen Sekunde

Verteilungskonflikte lassen sich jedoch mit Hilfe der Statistik nicht befrieden. Für die Berechnung des Index ist die erstmalige Auszahlung einer Tariferhöhung maßgeblich. Sagen die Statistiker. Da die meisten öffentlichen Verwaltungen nicht in der Lage sind, ihre Gehaltsbuchhaltung so umzustellen, dass die seit März geltende Erhöhung um 2,4 Prozent vor dem 30. Juni gezahlt wird, fließen die Prozente also nicht in die Berechnung ein. Und der Metallabschluss auch nicht, obwohl der schon seit April gilt. Doch für die Monate April bis Juni vereinbarte die IG Metall mit den Arbeitgebern eine Einmalzahlung von 150 Euro. Einmalzahlungen werden aber nicht berücksichtigt. Und die Erhöhung um 2,8 Prozent greift eben erst am 1. Juli – das Problem mit der statistischen Sekunde.

Ich glaube, ich bin demnächst auch mal drei Monate "nicht in der Lage", auf Änderungen bei der Steuer zu reagieren. Oder auf höhere Strompreise. Es braucht halt alles seine Zeit und gut Ding will Weile haben...

schreibt NutzerIn freedrichshainer

Nach der Logik der Statistiker dürfte der Mindestlohn deshalb nur um 27 Cent auf 8,77 Euro steigen. Für die Gewerkschaften ist das nicht akzeptabel, sie wollen mindestens 8,85 Euro. Göhner würde das mittragen – wenn er an anderer Stelle etwas bekommt. Die Kommission legt der Regierung auch einen Bericht vor über die Erfahrungen mit den 8,50 Euro vor. Arbeitsplätze hat die Lohnuntergrenze nicht gekostet, das ist unstrittig. Doch die Arbeitgeber würden gerne die Ausnahmen erweitern. "Das Medikament ist das richtige, aber die Dosierung ist zu gering", sagt Göhner über die sechs Monate, die bei der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen vom Mindestlohn nach unten abgewichen werden darf. Göhner hätte gerne zwölf Monate. Und dazu Ausnahmen für bestimmte Gruppen. Den entsprechenden Ton schlägt Clemens Fuest an, der als (nicht stimmberechtigter) Ökonom auf der Seite der Arbeitgeber in der Kommission sitzt: Zur Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge müsse der Mindestlohn gesenkt werden. Für die Gewerkschaften ist das vor allem ein Medikament zur Stärkung der AfD.

In der vergangenen Woche haben alle Kommissionsmitglieder den inzwischen dritten Entwurf des von der hauptamtlichen Geschäftsstelle der Kommission verfassten Berichts bekommen. Die Gewerkschafter sind unzufrieden und wollen ein Sondervotum abgeben. Das ist nicht schön, denn so offenbart sich schon bei der ersten Bewährungsprobe die Zerrissenheit der Kommission. Es sei denn, Jan Zilius zaubert noch einen Kompromiss herbei.

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 21. Juni 2016, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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