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Der Verbraucher als Marionette der Politik? Das werfen Kritiker dem Nudging vor.

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Streit ums Nudging: Wie der Staat Verbraucher erzieht

Vom Veggie Day in der Kantine bis zur Organspende: Wie der Staat Verbraucher zur Vernunft anleiten könnte, ohne dass die es überhaupt merken.

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Am Anfang war da die Fliege im Pissoir. Ende der neunziger Jahre wollte Aad Kieboom, Manager am Flughafen Schiphol in Amsterdam, ein kleines, aber lästiges Problem lösen. Viele Männer zielten beim Pinkeln im Stehen daneben – mit der Folge, dass die Herrentoiletten am Flughafen viel schneller schmutzig waren als die Damen-WCs. Kiebooms Lösung war so clever wie simpel: Er klebte das Bild einer Fliege ins Urinal. Das weckte den Spieltrieb der Männer, sie zielten auf das Insekt, und es ging deutlich weniger daneben als zuvor. Das Ergebnis: Die Sauberkeit der Toiletten verbesserte sich um 80 Prozent.

Die Fliege könnte nun zum Elefanten werden. Denn das Insekt hat inzwischen Karriere gemacht. Es gehört zum festen Repertoire von Harvardprofessor Cass Sunstein. Sunstein erzählt dieses Beispiel gerne. Vor allem dann, wenn er Politikern wie dem deutschen Verbraucherminister Heiko Maas erklären will, wie leicht und schnell sie das Verhalten der Bürger mit kleinen, psychologischen Tricks beeinflussen können. Glaubt man Sunstein, muss der Staat in vielen Fällen keine Verbote oder Vorschriften erlassen. Stattdessen kann er die Verbraucher zu besseren Bürgern erziehen, indem er sie unterschwellig beeinflusst. „Nudging“ nennen Experten diesen Ansatz. Zu deutsch lässt sich das am ehesten mit „Anstupsen“ übersetzen: Der Staat soll Verbraucher in die richtige Richtung schubsen.

Sunstein war kürzlich zu Besuch in Berlin. Das ist kein Zufall. Der Professor hat das Nudging populär gemacht. Zusammen mit dem Juristen Richard H. Thaler hat er 2008 ein Buch darüber geschrieben. Kurz darauf holte US-Präsident Barack Obama ihn als Berater ins Weiße Haus, wo er eine Nudging-Abteilung etablierte. Kollege Thaler ging nach London und baute dort für Premier David Cameron eine Nudging-Einheit auf. Nun will auch die deutsche Regierung auf diesen Zug aufspringen. In der vergangenen Woche hat ein Projektteam im Bundeskanzleramt seine Arbeit aufgenommen hat. Sein Ziel: „Erkenntnisse zu menschlichem Verhalten“ nutzen, „um politische Ziele besser zu erreichen“.

Verbraucherminister Heiko Maas findet Nudging "sehr interessant"

An der Speerspitze der deutschen Nudging-Bewegung steht aber nicht die Bundeskanzlerin Angela Merkel, sondern ihr Justiz- und Verbraucherminister Heiko Maas und sein beamteter Staatssekretär Gerd Billen. „Nudging ist ein sehr interessantes Konzept“, sagt Maas. Sein Haus arbeitet an ersten Ideen, wie man das neue Instrument nutzen könne. „Ich kann mir vorstellen, dass wir im Bereich des Verbraucherschutzes in der digitalen Welt oder im Finanzmarkt viele spannende Anwendungsmöglichkeiten finden“, hofft der Sozialdemokrat. Er findet das Nudging vor allem aus einem Grund interessant: „Es ist eine gute Idee, wenn Menschen bessere Entscheidungen treffen, dabei aber weiterhin völlig souverän sind.“

Ist für Nudging: Verbraucherminister Heiko Maas.
Ist für Nudging: Verbraucherminister Heiko Maas.

© Kay Nietfeld/dpa

Völlig souverän? Das sehen viele ganz anders und verweisen auf die Wirtschaft, die traditionell Nudging betreibt, ohne den Begriff zu verwenden. Die Unternehmen wissen, wie man Verbraucher dazu bringt, das zu tun, was der Wirtschaft nützt. Das geht von der Werbung für Schokoriegel über die richtige Präsentation der Waren im Supermarkt bis hin zur bereits voreingestellten Reiseversicherung bei der Flugbuchung im Internet.

Warum soll sich die Politik davon nicht eine Scheibe abschneiden, fragen sich jetzt aber auch Verbraucherpolitiker und -schützer. Datenschützende Voreinstellungen bei sozialen Netzwerken, eine verpflichtende Altersvorsorge, von der man sich aktiv verabschieden muss, ein Organspendeausweis, den man automatisch bekommt, wenn man nicht aktiv widerspricht. Der Staat als Lenker? Verbraucherschützer finden das gut. „Ein bisschen Grundsatzdiskussion tut der Politik gut“, sagt Klaus Müller, Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen. Bisher habe in der Verbraucherpolitik vor allem Pragmatismus geherrscht, jetzt gebe es aber eine wachsende Sehnsucht nach grundsätzlicher Klärung und Orientierung: „Wo wollen wir hin?“

Es gibt heftige Kritik

Doch die neue Richtung gefällt vielen nicht, allen voran der Wirtschaft. „Die Politik soll zielorientierte Politik machen“, sagt Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Ernährunsindustrie. „Wenn sie das tut, braucht sie kein Nudging, sondern Überzeugung.“ Dass die Ernährungsindustrie gegen Staatsnudging ist, verwundert allerdings nicht. Immerhin muss sie befürchten, dass eines Tages keine Schokoriegel mehr an den Supermarktkassen liegen, sondern Äpfel. Oder dass Kantinen gezwungen werden könnten, einen Veggie-Day einzuschieben. Schwerer wiegen dagegen die Bedenken aus den eigenen Reihen. Denn auch im Verbraucherministerium gibt es Vorbehalte. Von Paternalismus ist die Rede, von Manipulation und Bevormundung der Verbraucher. Und von einem Staatssekretär Billen, der seine Rolle noch immer nicht gefunden habe. Der ständig neue Themen anschneide oder Forderungen formuliere, wie er es einst als oberster Verbraucherlobbyist getan hat, statt sich – wie es seiner neuen Rolle entspreche – auf das Machbare und Durchsetzbare zu konzentrieren.

An apple a day - kommt künftig der Veggie Day?
An apple a day - kommt künftig der Veggie Day?

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Bildungsexperte: "Man muss Verbraucher stark machen"

Der Streit ums Nudging spaltet selbst die Expertenrunde, die Justizminister Maas wissenschaftlich beraten soll. Lucia Reisch, Chefin des neuen Sachverständigenrats für Verbraucherfragen, ist eine Anhängerin des Nudging. Gegenwehr kommt jedoch ausgerechnet von dem Bildungsexperten in dem Gremium, Gerd Gigerenzer. Der Psychologe ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Nudging, meint Gigerenzer, sei nichts anderes als der Versuch, die Schwächen der Menschen auszunutzen. Das könne zwar kurzfristig helfen, perspektivisch sei das aber der völlig falsche Weg: Nicht der Staat solle für die Bürger entscheiden, sondern man müsse die Verbraucher selbst in die Lage versetzen, „gute Entscheidungen zu fällen“, meint Gigerenzer. Etwa durch Verbraucherbildung, die in der Schule anfängt, und im Erwachsenenleben weitergeht. Nur das könne nachhaltig funktionieren. Starke Verbraucher bräuchten keinen Staat, der sie wie ein Vater oder eine Mutter lenkt.

Das Thema hat hohe wirtschaftliche Relevanz

Was akademisch klingt, hat hohe wirtschaftliche Relevanz. Datensparsame Voreinstellungen im Internet bringen Google, Facebook und Co. um wertvolle Daten der User, mit denen sie Handel treiben können. Eine Pflicht zur Riester- Rente, wie sie damals bei Einführung der staatlich geförderten Altersvorsorge diskutiert worden war, hätte wahrscheinlich ein kostengünstiges Standardprodukt hervorgebracht statt privater Angebote, die Milliarden an Provisionen verschlingen. Das flächendeckende Einbestellen von Frauen jenseits der 50 zum Mammografie-Screening beschert den Radiologen sichere Umsätze.

Die Befürworter des Nudging werben gern mit Beispielen aus dem Ausland. So soll es dem US-Bundesstaat Kalifornien mittels Nudging gelungen sein, den Energieverbrauch zu senken. In der Vergangenheit war dort im Sommer immer wieder die Stromversorgung zusammengebrochen, weil zu viele Menschen gleichzeitig ihre Klimaanlagen anschalteten. Politiker wie Bürger waren sich einig, dass man Energie sparen sollte – dennoch änderte keiner freiwillig sein Verhalten. Die Kommunen griffen daher zu einem Trick: Sie teilten den Verbrauchern schriftlich mit, wie viel Energie sie im Vergleich zu ihren Nachbarn verbrauchten. Wer besonders sparsam war, bekam einen Smiley. Und tatsächlich sprangen viele Kalifornier auf diese Schul-Psychologie an und versuchten, ihre Nachbarn beim Energieverbrauch zu unterbieten.

In Großbritannien ist es den Behörden mittels Nudging gelungen, die Steuermoral der Menschen zu verbessern. Verbraucher, die ihre Steuern zu spät zahlen, bekommen nun Post vom Finanzamt: Sie werden darin freundlich darauf hingewiesen, dass die meisten Briten, anders als sie, pünktlich ihre Steuern zahlen würden. Vielen scheint das ein schlechtes Gewissen bereitet zu haben. Mit der Folge, dass sich die Zahlungsmoral um 15 Prozent verbessert hat.

Liebesbriefe vom Finanzamt? Das mag nett sein, erklärt aber sicher nicht allein die Karriere des Themas Nudging im Hause Maas. Die hat nämlich auch hausgemachte Gründe und ein Problem: Nahezu alles, was im Koalitionsvertrag vereinbart war, ist inzwischen auf den Weg gebracht. Die Mietpreisbremse, das Kleinanlegerschutzgesetz, das Skandale wie Prokon verhindern soll, oder die Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie, die eine bessere Beratung der Kunden bei der Baufinanzierung und einen Schutz vor hohen Dispozinsen bringen soll. Das heißt: Alles, was Billen und Maas jetzt anfassen, ist Neuland und vom Koalitionsvertrag nicht mehr gedeckt.

Die Geschichte erschien in Agenda, dem Politik-Journal des Tagesspiegels.

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