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Verkehrt im Verkehr. Sebastian Vettel dreht sich im letzten und entscheidenden Formel-1-Rennen in Brasilien – und wird am Ende trotzdem Weltmeister. Dabei halfen ihm auch der Regen und Sympathien aus dem Fahrerfeld.

© dapd

Dramatische Momente des Sportjahres: Sebastian Vettel: Und dann macht es Bumm!

Sebastian Vettel steht im letzten Saisonrennen plötzlich quer. Der Weltmeister startet eine irre Aufholjagd und überholt am Ende sogar den alten König der Formel 1 – ein Symbol mit Kraft.

Von Christian Hönicke

Sebastian Vettel rollt rückwärts den Hügel hinab. Er blickt in die falsche Richtung. Vielleicht sieht er die entsetzten Gesichter auf den Tribünen am Ende der langen Gegengeraden der Strecke von Interlagos in Sao Paulo. Vielleicht hört er die tobenden Motoren der anderen in seinem Rücken, wie sie immer leiser werden und dann verstummen. Ein paar hundert Meter hinter ihm brüllen die Kommentatoren der Fernsehsender. Unfall, schreien sie, accidente, collisione, crash.

Und es ist nicht der erste Geisterfahrermoment der Saison für Sebastian Vettel. Schon zur Hälfte der Saison stand der zweimalige Formel-1-Weltmeister gewissermaßen verkehrt herum. 44 Punkte Rückstand hatte er in der Gesamtwertung nach dem Grand Prix in Hockenheim auf den Ferrari-Piloten Fernando Alonso. Doch Vettel startete eine Aufholjagd, bei der Asientournee im Herbst siegte er vier Mal in Folge und schob sich auf Rang eins.

Sein Meisterstück macht Sebastian Vettel im WM-Finale von Sao Paulo. „In Brasilien hätten viele Fahrer dem Druck nachgegeben“, sagt Teamchef Christian Horner. „Aber er hat niemals aufgegeben. Je höher der Druck war, umso besser war er.“ Mit 13 Punkten Vorsprung auf Alonso startet Vettel in das letzte Rennen des Jahres. Doch nach einem verpatzten Start fällt er noch in der ersten Kurve von Startplatz vier auf Rang sieben zurück. Sein Titelrivale Fernando Alonso und dessen Adjutant Felipe Massa haben ihn schon überholt.

Vielleicht ärgert sich Vettel noch darüber, als er vor der vierten Kurve, der Curva do Lago, vorsichtig bremst. Dann zieht er von rechts außen nach ganz innen auf die Ideallinie der Linkskurve. Zunächst hat Vettel noch riesiges Glück. Kimi Räikkönen direkt hinter ihm verbremst sich und rauscht auf das Heck des Red Bull zu. Im letzten Moment zieht der Finne nach rechts und schießt in die Auslaufzone. Vettel zieht nach links in die Kurve, noch weiter nach links, und dann macht es: Bumm.

Williams-Pilot Bruno Senna hat Vettels Red Bull links hinten erwischt. Der Weltmeister dreht sich um 180 Grad, bis er seinen Verfolgern in die Visiere sehen kann.

In der Ferrari-Box brandet Jubel auf, Alonsos Freundin hält sich verschämt die Hand vor den lachenden Mund. In der Schadenfreude spiegelt sich der erbitterte Kampf, den der italienische Rennstall seit Wochen gegen Vettel führt. Ferrari zweifelt auch nach dem Rennen in Brasilien noch an der Regelkonformität seiner Überholmanöver. Der Deutsche ignoriert jeden Vorwurf, nach Saisonende sagt er lediglich: „Ich bin so erzogen worden: Lügen haben kurze Beine, und ehrlich währt am längsten.“

Vettel gilt mit 25 Jahren bereits als moralische Instanz

2012 ist auch für Vettels Außenwirkung ein Wendepunkt. Spätestens seit seinen Aufholjagden in Abu Dhabi und Sao Paulo ist er nicht mehr der umhätschelte Red-Bull-Zögling, dem die Siege mundgerecht serviert werden. Er hat bewiesen, dass er das Können, die Nervenstärke und die Übersicht eines Großen hat. Mit seinem Fairness-Appell nach dem Triumph hat sich der Deutsche zudem schon im Alter von 25 Jahren zu einer moralischen Instanz in einem skrupellosen Business aufgeschwungen.

Und so könnten die Vorfälle des Endspurts 2012 auch eine Weggabelung für ihn und Ferrari markieren. Bislang galt es als ausgemacht, dass Vettel, wie alle großen Rennfahrer, den Weg nach Maranello antreten wird. Doch Vettel habe ein „Elefantengedächtnis“ und sich „genau gemerkt, wie Ferrari sich nach dem Finale verhalten hat“, sagt Helmut Marko, der als Motorsportkoordinator die Interessen Red Bulls verfolgt. So hat sich die alte Formel-1-Regel ins Gegenteil verkehrt. Nicht Vettel becirct Ferrari, es ist umgekehrt. Natürlich spielt dabei auch eine Rolle, dass Vettel die Roten nach 2010 zum zweiten Mal aus fast hoffnungsloser Position doch noch niederrang.

Auch in der unmöglichsten Position für einen Rennfahrer lässt Sebastian Vettel die Hoffnung in Sao Paulo nicht fahren. Das Auto mit der Nummer eins eiert rückwärts durch den brasilianischen Nieselregen. Ein Kollege knallt ihm noch einmal in die rechte Fahrzeugseite. Der Rest des Feldes zieht links und rechts an ihm vorbei. Letzter entgegen der Fahrtrichtung: So stellt man sich den Albtraum eines jeden Rennfahrers vor.

Vettel zieht nach der Kollision geistesgegenwärtig die Kupplung und hält den Motor am Laufen. Er schaltet in den ersten Gang, schlägt das Lenkrad voll nach links, lässt die Kupplung los, der Motor heult auf, die Hinterreifen drehen durch.

Vielleicht ist der Knall in Kurve vier der Weckruf, den Vettel braucht. Nicht einmal zehn Minuten nach seinem Unfall liegt er auf Platz sechs und hat Alonso in Sichtweite. Die Red-Bull-Verantwortlichen machen trotzdem ziemlich beunruhigte Gesichter. Am meisten Sorgen bereitet ihnen der angeknackste Auspuff auf der linken Seite. Technikchef Adrian Newey weiß: „Wenn der Auspuff bricht, ist das Rennen meist vorbei.”

Vettels wichtigster Abschlepphelfer an diesem Tag ist der brasilianische Novemberregen. Wäre es trocken gewesen, dann wäre wohl Alonso Weltmeister geworden. Doch weil es im Nassen vor allem auf das Fahrgefühl des Piloten ankommt, fällt der Leistungsverlust seines Wagens nicht so sehr ins Gewicht.

Dann verrutscht das Mikrofon in Vettels Helm, sein Team kann ihn über Funk nicht mehr hören. Es kommt zu Missverständnissen bei einem Reifenwechsel, der Red-Bull-Pilot fällt erneut zurück. „Es ging wirklich drunter und drüber“, sagt Vettel. Er kämpft sich ein weiteres Mal nach vorn. Die Cockpitaufnahmen belegen, dass Vettel dabei selten auf große Widerstände trifft. Auffällig viele Fahrer machen ihm Platz. Und die Erklärung ist einfach: Vettel hat sich wenig Feinde gemacht auf seinem Weg nach oben. Alonso hat mit Massa nur einen Mitstreiter, Vettel das halbe Feld.

Kurz vor Schluss liegt Sebastian Vettel auf Rang sieben. Und dann taucht da ein letzter Stolperstein in dieser wechselvollen Saison auf: Michael Schumacher. Der Rekordweltmeister kämpft in seinem letzten Grand Prix direkt vor Vettel mit seinem Mercedes. „Wir hatten überlegt, Sebastian zu sagen, dass er die Position nicht braucht und er sich besser nicht mit Michael anlegen sollte“, sagt Horner später. Doch auch der letzte Stein auf Vettels Weg zum dritten WM-Titel in Folge rollt sich auf wundersame Weise selbst zur Seite. Michael Schumacher, der alte König der Formel 1, macht Platz für den neuen.

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