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Liav Orgad forscht zu Verfassungsidentität und Staatsbürgerschaftsrecht. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Fulbright Foundation Alumni Prize.

© Martha Steward

Demokratische Werte: „Den Kern der Verfassung akzeptieren“

Die Anschläge von Paris haben die Debatte verstärkt, wie westliche Staaten ihre Werte verteidigen können. Der Rechtswissenschaftler Liav Orgad, Marie Curie Fellow an der Freien Universität, forscht am Center for Ethics in Harvard und hat das Buch „Cultural Defense of Nations: A Liberal Theory of Majority Rights“ verfasst. Darin zeigt er, wie liberale Demokratien trotz zunehmender Einwanderung ihre grundlegenden Werte bewahren.

Herr Orgad, in Ihrem Buch kritisieren Sie die Einbürgerungstests, die einige Länder für Migranten eingeführt haben, um die Staatsbürgerschaft zu erlangen – worin liegt Ihrer Meinung nach das Problem?
Grundsätzlich sind solche Tests kein Problem. Ich kritisiere die gängige Praxis jedoch in drei Punkten. Zunächst ist es der Inhalt, der oft einen Eingriff in die Privatsphäre darstellt, wenn es etwa um Fragen geht, die auf Moralvorstellungen zielen und rechtliche Belange dabei außer Acht lassen wie die Frage der elterlichen Akzeptanz bei der Wahl von Lebenspartnern ihrer Kinder. Ein weiteres Problem sehe ich im standardisierten Testformat, das Menschen aufgrund verschiedenster Veranlagungen benachteiligt. Das führt zum dritten Kritikpunkt, zu dem, was ich mit Fairness umreiße. Damit meine ich auch die Restriktionen bei den Kosten, Wiederholungsmöglichkeiten oder Vorbereitungsoptionen.

Das heißt, es werden Fragen gestellt, die den Staat nichts angehen?
Ja, genau. Da gibt es vier problematische Themen: persönliche Moralvorstellungen, politisch-ideologische Sichtweisen, die sogenannte Hochkultur mit obligatorischen Kenntnissen von Sinfonien, literarischen Werken oder Gemälden und nicht zuletzt das soziale Handlungsfeld, um angemessenes Verhalten im Alltag zu suggerieren. Der Fragenkatalog zeugt dabei oft von einer verklärten Selbstsicht, das heißt Staaten definieren in Einbürgerungstests eine Art Wunschbild von sich selbst. Eine Gesellschaft, die sich selbst als freiheitlich demokratisch versteht und zugleich restriktive Vorstellungen von richtigem oder falschem Verhalten mit rechtlichen Mitteln durchzusetzen sucht, schränkt die Freiheit ihrer Bürger ein. Das nenne ich illiberalen Liberalismus.

Sie schreiben, dass Staaten angesichts großer Migrationsbewegungen Möglichkeiten der Restriktion haben müssen.
Die Migrationsbewegung der vergangenen Jahre hat zur Veränderung des tradierten Verständnisses von Nationalstaaten beigetragen und auch unserer selbstverständlichen Annahme, dass die Mehrheitsgesellschaft sich selbst zu schützen weiß. Bislang ging es immer um den Schutz von Minderheiten, doch zunehmend fühlen sich westliche Demokratien als Ganzes verletzlich, angreifbar und subjektiv bedroht. Wenn also plötzlich sehr viele Menschen in ein Land einwandern, sollte die Mehrheitsgesellschaft auch die Möglichkeit haben, ihr Konzept von Demokratie zu bewahren und das Verständnis ihrer Kultur zu verteidigen.

Wie soll das konkret aussehen?
Menschen, die in ein Land einwandern, haben den Kern seiner Verfassung zu akzeptieren, um das Land, seine rechtliche Grundordnung und die verfassungsmäßig etablierten Werte zu schützen. Es geht nicht um die Übernahme bestimmter Verhaltensweisen, Traditionen oder gar Bräuche, nicht um die nationale Identität, sondern um die Verfassungsidentität, die sich nicht an Kategorien von Ethnie, Religion oder sonstiger soziokultureller Zugehörigkeit bemessen lässt. Wer den Kern der Verfassung akzeptiert, soll bleiben können.

Was heißt „Kern der Verfassung“?
Verfassungen sind ein elementarer Bestandteil der Rechtsordnung von Staaten, die nicht zwingend aus einem Dokument bestehen. Es gibt verschiedene Mechanismen, die fundamentale Rechte festschreiben und garantieren: Staatsziele finden sich in den Präambeln wie dem Bekenntnis Frankreichs zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Ewigkeitsklauseln betonen bestimmte Grundsätze wie in Deutschland die Menschenwürde und die Ausrichtung als demokratischer und sozialer Bundesstaat, oder Verfassungsgerichte entscheiden über relevante Werte.

— Die Fragen stellte Manuel Krane

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