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Völlig versunken: Ein gutes Buch kann uns alles um uns herum vergessen lassen. Immersion nennen Wissenschaftler diesen Zustand intensiven Lesens. Die Lesekonzentration wirkt sich auf den Herzschlag aus, auf die Hirnregion, über die Empathie empfunden wird – und auf Schweißdrüsen.

© luna4/photocase.de

Neuropsychologie: Eintauchen ins Lese-Erlebnis

Was im Gehirn passiert, wenn wir Bücher wie „Harry Potter“ lesen, untersucht der Neuropsychologe Arthur M. Jacobs.

Es passiert binnen weniger Minuten: Ich nehme das dicke Buch vom Nachttisch und blättere zu der Stelle, an der ich zuletzt aufgehört habe zu lesen. Noch einen Schluck Tee, und ich beginne mit dem neuen Kapitel.

Und schon sehe ich die scharlachrote Dampflokomotive vor mir. Auf Gleis 9¾ am Londoner Bahnhof King’s Cross herrscht geschäftiges Treiben. Junge Zauberer und Hexen schieben riesige Koffer vor sich her, hin und wieder schreit eine Eule. Sie fahren zurück nach Hogwarts, in die berühmte Schule für Hexerei und Zauberei, wo das neue Schuljahr beginnt. Und ich fahre mit. Lesend erlebe ich mit Harry Potter und seinen Freunden Ron und Hermine Abenteuer in der magischen Welt, teile ihre Ängste und Freuden und trete mit ihnen den mühevollen Kampf gegen das Böse an.

Dass ich in Wirklichkeit auf meinem Bett liege und mich keinen Zentimeter bewegt habe, wird mir erst klar, als ich das Buch wieder zuklappe. Stunden sind vergangen, ohne dass ich es gemerkt hätte.

Ein Gefühl, das viele Harry-Potter- Fans kennen. Nicht umsonst wurde die siebenbändige Romanreihe der britischen Schriftstellerin Joanne K. Rowling innerhalb kürzester Zeit zum Welterfolg: Mehr als 450 Millionen Exemplare wurden nach Angaben von Rowlings Verlag Bloomsbury verkauft; die Bücher wurden bislang in 78 Sprachen übersetzt, verfilmt und sogar als Theaterstück fortgesetzt.

Doch wie kommt es, dass man als Leser regelrecht in den Büchern versinkt und anscheinend alles um sich herum vergisst? Und was passiert währenddessen in unserem Gehirn?

"Harry Potter" gilt unter Literaturwissenschaftlern als besonders fesselnd

Diese Frage beschäftigte Arthur M. Jacobs und seine Kollegen. Immersion nennt der Neuropsychologe vom Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität den Zustand intensiven Lesens, abgeleitet vom lateinischen Begriff immersio, der „Eintauchen“ oder „Einbetten“ bedeutet – und ganz nebenbei mit der richtigen Betonung nach einem Zauberspruch aus den Potter-Büchern klingt. Je nach wissenschaftlicher Fachrichtung spricht man auch von Transportierung, Absorption, Präsenz oder flow.

Das Phänomen ist also schon lange bekannt – „umso erstaunlicher, dass sich bislang offenbar weder die Psychologie noch die Neurowissenschaft damit beschäftigt haben“, findet Arthur Jacobs. Gemeinsam mit seinem ehemaligen Doktoranden Chun-Ting Hsu wollte er das ändern. Die Wissenschaftler initiierten also empirische Untersuchungen von Immersion am Beispiel der Harry-Potter-Reihe, die in Literaturwissenschaftler-Kreisen als „besonders immersiv“ gilt.

Herauszufinden, was im Kopf eines Menschen vorgeht, der gerade vollkommen in sein Buch versunken ist, sei gar nicht so einfach, sagt Jacobs. Eine Onlinebefragung etwa sei nicht sinnvoll, „denn sobald ich den Lesenden frage, ob er immersiert sei, ist er es schon nicht mehr“. Und würde der Harry-Potter-Fan im Anschluss berichten, was er beim Lesen empfunden hat, könne man nur die Erinnerung an die Immersion messen und nicht den Zustand selbst. Die Wissenschaftler mussten also eine Möglichkeit finden, um den Menschen während des Lesens „in den Kopf zu schauen“.

Jacobs und seine Kolleginnen und Kollegen nutzten dafür den Magnetresonanztomografen (MRT), der mithilfe eines starken Magneten in hochauflösenden Bildern sichtbar macht, wie sich beim Denken und Fühlen die Durchblutung in den unterschiedlichen Bereichen des Gehirns verändert. Der MRT-Scanner gibt so exakt Auskunft über Hirnaktivitäten. Zusammen mit weiteren Laboren wurde er an der Freien Universität 2009 eingerichtet, aus Mitteln des Exzellenzclusters Languages of Emotion, der von 2007 bis 2014 im Rahmen der Exzellenzinitiative gefördert worden ist. Die Labore, die sich insgesamt auf 800 Quadratmetern erstrecken, seien in der universitären psychologischen Forschung bundesweit einmalig, sagt Arthur Jacobs. „Sie bieten Doktoranden und Studierenden einen enormen Vorteil, nämlich die Möglichkeit, vor Ort quasi sämtliche neurokognitiven Messmethoden anzuwenden.“

Testpersonen bekamen neutrale, angsterregende und emotionale Textstellen zu lesen

Das Wissenschaftler-Team führte insgesamt vier Harry-Potter-Studien zum Thema Immersion durch, bei denen sie jeweils 20 bis 24 Testpersonen untersuchten. Alle waren mit den Büchern vertraut, was wichtig war, damit sie sich problemlos in die kurzen Textpassagen einfinden konnten. Diese wurden ihnen im Scanner auf einem Bildschirm angezeigt. Die Abschnitte waren zuvor in enger Zusammenarbeit mit Literaturwissenschaftlern ausgewählt worden: eine Mischung aus neutralen, aus besonders angsterregenden und sehr emotionalen Textstellen. Beispiele sind etwa die Beschreibung der erwähnten Szene auf Gleis 9¾ (neutral), die Schilderung der „Dementoren“ – leblose Schreckensfiguren, die alles Glück aus den Menschen heraussaugen (angsterregend) - und eine Szene, in der Harry das Hochzeitsfoto seiner Eltern betrachtet, die vom mächtigen und bösen Zauberer Voldemort – Harry Potters Gegenspieler – ermordet worden waren, als dieser noch ein Kleinkind war (emotional).

Zum Vergleich gab eine weitere Testgruppe in einem Fragebogen an, wie immersiv sie die einzelnen Textpassagen einschätzte. Anhand dieser Angaben konnten die Wissenschaftler die Daten aus dem Scanner interpretieren.

„Wir haben herausgefunden, dass der mittlere cinguläre Cortex im Gehirn sensibel reagiert, wenn Menschen immersiert sind“, sagt Arthur Jacobs. Es handelt sich dabei um eine Gehirnregion, die sonst in Verbindung gebracht wird mit Schmerzempfinden, Mitgefühl und Empathie. Wenn den Figuren in den Harry-Potter-Büchern zum Beispiel etwas Trauriges widerfährt und ihre Reaktion darauf beschrieben wird, reagiert das Gehirn des Lesers so ähnlich, als sei eine ihm nahestehende Person sehr traurig. Das Gelesene erzeugt Empathie – ein wichtiger Faktor bei der Immersion.

Wichtig sei außerdem die räumliche Fokussierung, sagt Jacobs, der sich unter anderem der Blickbewegungsforschung widmet. „Der Blick ist beim Lesen auf die Buchseite gerichtet – ob im E-Book oder im analogen Blätterwerk. Er geht in den Text hinein und schweift nicht im Raum umher, wie etwa beim Musikhören. Die Immersion wird so schon rein physisch begünstigt.“

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor in Bezug auf Immersion sei die Spannung innerhalb der Erzählung, die zum Weiterlesen-Wollen führe. „Aus Sicht des Schriftstellers ist das Handwerk: ,Wie erzeuge ich Spannung in meinem Text?’“, erklärt der Neuropsychologe. Joanne K. Rowling schaffe es etwa, Handlungen lebhaft zu schildern. „Es gibt eine hohe Aktionsdichte.“

Spielt es eine Rolle, ob das Buch in der Muttersprache gelesen wird?

„In unseren Laboren können wir nicht nur die Reaktionen des Gehirns messen, sondern auch Merkmale wie erhöhten Herzschlag und Schweißbildung“, erklärt Jacobs. „Wir erkennen, ob der sogenannte Sorgenmuskel zwischen den Augen zugezogen oder der Lachmuskel an den Mundwinkeln betätigt wird.“ All dies geschehe unbewusst, sei jedoch unter Umständen Teil der Immersion – und neuropsychologisch messbar.

Besonders eine Frage, die im Rahmen der Studien untersucht wurde, sei international auf großes Interesse gestoßen: Spielt es eine Rolle, ob ich das Buch in meiner Muttersprache oder einer Zweitsprache lese? Die Personen, die an diesem Versuch teilgenommen haben, sind deutsche Muttersprachler und sprechen fließend Englisch. Das Ergebnis bestätigte die Vermutung der Wissenschaftler: „Emotionen wie Angst und Freude werden intensiver erlebt, wenn das Buch in der Muttersprache gelesen wird. In der Zweitsprache unterscheidet das Gehirn nicht so klar zwischen den basalen Gefühlen, etwa zwischen Angst und Ekel. Welche mit Gefühlen assoziierten Hirnregionen beim Lesen aktiviert werden, ist weniger eindeutig.“ Die Gründe dafür seien vielfältig. Deutlich werde aber, dass ein messbarer Zusammenhang bestehe zwischen der Sprache, der Textqualität und dem Immersionserlebnis.

Repräsentativ sind die Ergebnisse der Studie zwar nicht: Aufgrund der hohen Kosten, mit denen die Messungen im MRT-Scanner verbunden sind, konnten die Wissenschaftler nicht so viele Stichproben nehmen, wie sie es sich gewünscht hätten. Auch die Bedingungen im Scanner hätten nicht alle Testpersonen als förderlich empfunden. Dennoch: „Wir haben eine Hypothese aufgestellt und mit unseren Ergebnissen eine Tendenz aufgezeigt, auf der andere Studien aufbauen können“, sagt Jacobs. Vielen Fragen könne man noch auf den Grund gehen, etwa, ob Lesen tatsächlich die immersivste Art des Medienkonsums sei. „Und was sich Frau Rowling so gedacht hat, als sie Harry Potter schrieb“, sagt Arthur Jacobs. „Ich würde ihr zu gerne mal beim Schreiben ins Gehirn schauen.“

Verena Blindow

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