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Die Welt zwischen den Seiten: Wie stark sich Lesende in einen Text vertiefen, wollen die Forscher mithilfe eines Eyetrackers herausfinden, der Augenbewegungen misst.

© imago/blickwinkel

Was beim Lesen im Kopf passiert: Schmökern, bitte!

Psychologinnen und Psychologen der Freien Universität sind mit empirischen Methoden Leseprozessen auf der Spur.

Welche Eigenschaften literarischer Texte lösen beim Lesen welche Reaktionen aus? Sind sie bei allen Lesern gleich – oder gibt es individuelle Besonderheiten? Unterscheidet sich das Lesen literarischer Texte in einem Buch vom Lesen auf einem Tablet oder E-Reader?

Solchen Fragen zur Wirkungsweise von gedruckten und digitalen Texten gehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eines interdisziplinären und internationalen Projekts am Arbeitsbereich Allgemeine und Neurokognitive Psychologie der Freien Universität unter der Leitung von Professor Arthur M. Jacobs nach. Sie folgen dabei einem theoriegeleiteten mehrschichtigen Multimethodenansatz, der qualitative und quantitative Analysen von poetischen und narrativen Texten mit vielfältigen Reaktionen der Leser verbindet.

„Wir möchten eine empirische Datenbasis schaffen und dadurch Leseprozesse besser verstehen“, sagt Jana Lüdtke, promovierte Psychologin und Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie. Sie forscht seit Jahren zur kognitiven und emotionalen Verarbeitung von Texten. Zusammen mit Arthur Jacobs untersucht sie in einem Team die Rezeptionsprozesse von Testpersonen auch mithilfe der Magnetresonanztomografie oder der Elektroenzephalografie. Die Reaktionen der Leserinnen und Leser dokumentiert sie anhand von Fragebögen und Interviews sowie mithilfe eines Eyetrackers, der Augenbewegungen misst. „Bei ausreichend vielen Testpersonen, die mit demselben Text konfrontiert werden, lässt sich etwa zeigen, dass die Lesegeschwindigkeit bei Textabschnitten, die besonders fesseln, abnimmt oder dass besonders anspruchsvolle Passagen von vielen mehrfach gelesen werden.“

Die Testpersonen lesen drei Sonette von William Shakespeare

Vor Kurzem haben Lüdtke und ihre Kollegen sämtliche Sonette von William Shakespeare einer quantitativen und qualitativen Textanalyse unterzogen. Auf dieser Grundlage haben sie Vorhersagen für das Leseverhalten getroffen, die nun an Testpersonen überprüft werden. Allen werden dabei drei Sonette vorgelegt. Zeitgleich werden in Laboren an der Freien Universität Berlin und an der sizilianischen Universität von Catania Blickbewegungsdaten erhoben – ein Pionierprojekt, wie Jana Lüdtke berichtet: „In der experimentellen Leseforschung wurde bislang üblicherweise mit sehr kurzen Texten gearbeitet, die sich die Versuchsleiter oft selbst ausgedacht hatten.“ Zwar erhalte man im Rahmen solcher meist psycholinguistisch motivierter Studien wertvolle Ergebnisse über die Verarbeitung von einzelnen Wörtern und Sätzen. Mit den alltäglichen Leseerfahrungen am Frühstückstisch, in der U-Bahn oder in der Bibliothek dürften sie aber wenig oder nichts zu tun haben, vermutet die Wissenschaftlerin.

Von anderen Disziplinen lernen und dadurch zu neuen Ergebnissen kommen – so geht auch Anne Mangen vor. Seit rund einem halben Jahr entwirft die Professorin von der norwegischen Universität Stavanger als Gastwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin gemeinsam mit Arthur Jacobs, Jana Lüdtke und anderen neuartige Versuchsanordnungen und Analysemethoden. „Eigentlich bin ich Historikerin sowie Literatur- und Medienwissenschaftlerin. Im Laufe meines Studiums habe ich aber gemerkt, dass mir die geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Texten häufig zu theoretisch war“, sagt Anne Mangen. Es seien die empirischen Fragen gewesen, die ihr Interesse geweckt hätten.

Die Vorstellungskraft wird von intensiven Beschreibungen beflügelt

Ein erstes gemeinsames Projekt haben Mangen und Lüdtke im Dezember vergangenen Jahres auf den Weg gebracht. „Wir fragen nach verschiedenen Wegen der Darstellung narrativer Inhalte und wollen herausfinden, wie sich unterschiedliche Arten des Erzählens auf die Vorstellungskraft von Leserinnen und Lesern auswirken und wie stark sie sich je nach Erzählweise in einen Text vertiefen“, erläutert Mangen. Hierfür haben die Wissenschaftlerinnen Romanauszüge ausgewählt und einen Fragebogen entwickelt. „Eine Möglichkeit des Autors, Leser in einen Text zu involvieren, ist, die Umgebung intensiv zu beschreiben, eine andere, die Interaktion mit anderen Menschen in den Vordergrund zu stellen“, sagt Jana Lüdtke. Eine Grundlage ihrer Vorhersagen ist die Erkenntnis, dass sich Leserinnen und Leser ein inneres Bild vom Gelesenen machten. „Wir wissen bereits, dass beim Lesen neuronale Netzwerke für Empathie aktiv sind. Ich vermute daher, dass Texte, in denen Interaktionen beschrieben werden, stärker fesseln als detaillierte Situationsbeschreibungen.“ Es gebe bislang allerdings noch wenig wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie genau die Vertiefung in einen Text und die Beschreibung von Personen und Orten, Zeit und Raum miteinander zusammenhängen. Genau solche Erkenntnisse versprechen sich die Forscherinnen von ihrer Studie.

Reaktionen in Echtzeit durch das Verfolgen von Augenbewegungen

Eine erste Testphase mit rund 80 Personen ist abgeschlossen. Nach der Auswertung der Daten soll mit anderen Methoden weitergeforscht werden. „Die meisten kognitiven und emotionalen Prozesse sind uns nicht bewusst“, sagt Jana Lüdtke. Leserbefragungen würden deswegen nicht weiterhelfen. „Das Verfolgen von Augenbewegungen beim Lesen ist hingegen eine gute Methode, um Reaktionen in Echtzeit zu beobachten“, erklärt Lüdtke. Auch mithilfe von bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomografie lasse sich herausfinden, welche Prozesse im Gehirn bei der Vertiefung in einen Text ablaufen. Erste Studien mit kurzen Ausschnitten literarischer Texte hätten bereits vielversprechende Ergebnisse geliefert, sagt die Psychologin.

Noch am Anfang sind die Wissenschaftler bei der Frage nach dem Einfluss von Technik auf Textverständnis und Lesegenuss. E-Book oder gedrucktes Buch? Gewohnheiten und individuelle Präferenzen spielten hier ebenso eine Rolle wie Lesesituation, Art des Textes sowie die physische Interaktion mit Büchern und Geräten, erläutert Anne Mangen: „Es gibt widersprüchliche Erkenntnisse in der Lektüreforschung darüber, ob es für das Verständnis zuträglicher ist, vom Papier zu lesen als vom Bildschirm. Einige Autorinnen und Autoren finden, dass es einen Unterschied gibt – und zwar zugunsten der Bildschirme. Andere Studien belegen keinen Unterschied.“ Solche Zusammenhänge seien komplex und schwer zu erfassen, sagt die Wissenschaftlerin. Die empirischen Untersuchungen dazu stehen jetzt an.

Nora Lessing

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