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Wirtschaft: Ein größeres Stück vom Kuchen

Das Verfassungsgericht hat die Rechte der Versicherten gestärkt - und dabei viele Fragen offen gelassen

Die Freude war groß: Von einem „guten Tag für die Verbraucher“ schwärmte Lilo Blunck, Geschäftsführerin des Bundes der Versicherten (BdV). Von einem Erfolg für den Verbraucherschutz sprach auch Bundesverbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne). Ihre Kabinettskollegin, Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD), versprach, sich sofort ans Werk zu machen und ihren Reformentwurf zum Versicherungsvertragsgesetz (VVG) noch verbraucherfreundlicher machen zu wollen als er ihrer Meinung nach ohnehin schon ist. Doch nach der anfänglichen Euphorie macht sich allmählich Ernüchterung breit. Experten warnen: Mit seinen Lebensversicherungsurteilen könnte das Bundesverfassungsgericht den Verbrauchern am vergangenen Dienstag in Wirklichkeit einen Bärendienst erwiesen haben.

Die Verfassungshüter hatten dem Gesetzgeber kräftig die Leviten gelesen. Viele Regelungen im Versicherungsrecht seien verfassungswidrig, hatten die Richter entschieden. Sie verlangen mehr Transparenz bei den Verträgen. So sollen die Kunden künftig besser darüber informiert werden, was mit ihrem Geld geschieht – wie viel vom monatlichen Beitrag überhaupt gewinnträchtig angelegt wird, was für die Kosten draufgeht und wie viel der Risikoschutz kostet. Auch wenn ein Versicherungsunternehmen verkauft oder ausgelagert wird, muss der Kundenschutz verbessert werden, forderte das Gericht. Die mit den Kundengeldern aufgebauten Vermögenswerte dürften bei einem solchen Transfer keinesfalls auf der Strecke bleiben. Für besonders große Aufregung in der Branche sorgt jedoch die Mahnung aus Karlsruhe, dass die Kunden künftig besser an den Gewinnen der Versicherer beteiligt werden müssen – auch wenn diese nur auf dem Papier stehen.

Stille Reserven. Nach Meinung der Verfassungsrichter müssen die Versicherten künftig mehr an den stillen Reserven der Versicherungsgesellschaften teilhaben. Diese entstehen dann, wenn Aktien, festverzinsliche Wertpapiere oder Immobilien seit ihrem Erwerb durch das Versicherungsunternehmen im Wert steigen. In den Bilanzen der Versicherer steht nur der niedrigere Buchwert. Die Differenz zwischen dem Buch- und dem Zeitwert macht die stillen Reserven aus. Bei der Berechnung der Überschusse bleiben die stillen Reserven außen vor – zu Lasten der Versicherten, wie das Bundesverfassungsgericht kritisiert. Nun soll der Gesetzgeber bis spätestens 31. Dezember 2007 mit entsprechenden Gesetzen dafür Sorge tragen, dass die Kunden dann, wenn ihre Verträge enden, von den stillen Reserven profitieren.

Versicherungsexperten schlagen Alarm: Die Beteiligung an den stillen Reserven sei in Wirklichkeit eine „verbraucherfeindliche“ Idee, kritisiert Manfred Poweleit, Herausgeber des Branchendienstes map-Report. Denn im Gegenzug müssten die Kunden dann auch mit Nachteilen rechnen, wenn sich die Vermögenswerte der Versicherer verschlechtern. Bei „stillen Lasten“ könnten sich die Versicherungen künftig bei ihren Kunden schadlos halten und müssten nicht mehr bei ihren Aktionären um eine Kapitalspritze betteln, meint Poweleit. Auch die Rating-Agentur Fitch sieht Gefahren: Wenn die Versicherer beim Börsencrash der Jahre 2000 bis 2002 nicht ihre stillen Reserven hätten auflösen können, wären deutlich mehr Versicherer in die Knie gegangen. So hatte es damals nur die Mannheimer Leben erwischt. Verbraucherschützerin Blunck stört das nicht. Zwar wolle niemand, dass Lebensversicherer Pleite gehen, sagt Blunck. Wenn die Kunden aber eines Tages für stille Lasten haften müssten, würde das die Kapitallebensversicherungen entzaubern und sie als die „Kapitalvernichter“ zeigen, die sie nach Meinung des BdV sind.

Altverträge. Den schwarzen Peter hat jetzt die Politik, die die Vorgaben aus Karlsruhe umsetzen und dabei schwierige Fragen entscheiden muss: Dürfen die Versicherer bei den stillen Reserven einen Puffer behalten, der nicht in die Endabrechnung einfließt? Was soll für die Verträge gelten, die vorzeitig gekündigt werden? Bisher kürzen viele Versicherer den Schlussüberschuss oder streichen ihn ganz, wenn der Kunde vorzeitig aussteigt. Und: Sollen die neuen Regelungen auch für laufende Verträge gelten oder nur für Neuabschlüsse ab dem Jahr 2008? Zwar hat die Branche bereits signalisiert, dass sie keine unangemessene Ungleichbehandlung zwischen Alt- und Neuverträgen will, doch Nägel mit Köpfen mag derzeit niemand machen. „Wir werden uns dafür einsetzen, dass auch Altverträge einbezogen werden“, sagte Wolfgang Scholl, Versicherungsexperte des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv) dem Tagesspiegel. „Es gibt keinen Grund, warum ein Vertrag, der 2007 geschlossen wird, anders behandelt werden soll als ein Vertrag aus dem Jahr 2008.“

Die Union hält sich bedeckt. Klar ist bisher nur eines: „Wir werden keine Einzelfallregelung machen“, meint Ursula Heinen, Beauftragte der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion für den Verbraucherschutz. Die Karlsruher Vorgaben sollen bei der großen VVG-Reform berücksichtigt werden. Ob auch Altverträge einbezogen werden, will Heinen aber erst einmal prüfen, immerhin könnte das die Unternehmen viel Geld kosten. Und: Dem einzelnen Verbraucher dürfte es unterm Strich auch nicht viel bringen. Die Beteiligung der Kunden an den stillen Reserven dürfte zwar in der Regel den Schlussüberschuss steigern, aber nicht sehr. Bisher liegt dieser bei zehn bis 15 Prozent der Überschussbeteiligung, betont Scholl. Rechne man die stillen Reserven hinein, könne der Schlussüberschuss um vier Prozent höher ausfallen.

Für die Kunden schmerzhafter seien ganz andere Abrechnungstücken, meint Scholl: „Die hohen Stornoabzüge sind viel gravierender.“ Weil die ersten Prämien fast ausschließlich für die Vertreterprovision verwendet werden, ist eine frühzeitige Kündigung der Lebensversicherungsverträge wirtschaftlicher Wahnsinn. Auch der Wechsel von einer Gesellschaft zur anderen ist wegen der niedrigen Rückkaufwerte kaum möglich.

All das wollte Justizministerin Zypries bei der Versicherungsreform anpacken. Möglicherweise erhält auch hier die Politik bald Nachhilfe vom Bundesverfassungsgericht. „Klagen gegen die niedrigen Rückkaufwerte sind ebenfalls in Karlsruhe anhängig“, weiß Verbraucherschützerin Blunck. Nur gut, dass sich die Richter bereits in die komplizierte Materie eingearbeitet haben. Das haben sie vielen Verbrauchern voraus: „Die Leute fühlen sich ausgeliefert“, kritisiert Blunck.

Fragen beantwortet die Versicherungsberatung der Verbraucherzentrale Berlin donnerstags zwischen 14 und 17 Uhr telefonisch unter 0190-8877-11 (1,86 Euro pro Minute).

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