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Panorama: Abschied von der Kindheit: In der Mitte von Nirgendwo

Antler, eine trostlose Kleinstadt in Texas. Hier passiert nie etwas.

Antler, eine trostlose Kleinstadt in Texas. Hier passiert nie etwas. Da ist es schon eine Sensation, wenn ein alter Wohnwagen auf den Parkplatz vor dem Lebensmittelladen einfährt. In dem mit Weihnachtslichtern geschmückten Wagen gibt es für zwei Dollar Eintritt den dicksten Jungen der Welt zu sehen: Zachary Beaver. Schon steht halb Antler Schlange.

Auch der dreizehnjährige Toby und sein Freund Cal wollen sich das Erlebnis nicht entgehen lassen. Sonst ist ohnehin nichts los, was man tun könnte. Die beiden Jungen sind zugleich verwirrt und fasziniert von diesem wortkargen, übellaunigen Zachary, und nach und nach gelingt es ihnen, dessen Vertrauen zu gewinnen.

Kimberly Willis Holt, die selbst in Amarillo, Texas lebt, beschreibt mit viel Lokalkolorit die heißen, trägen Tage in jenem Sommer 1971. Ohne erhobenen Zeigefinger macht sie deutlich, dass es darauf ankommt, dem dicken Jungen, der keine Eltern mehr hat, zu helfen, auch wenn dieser sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben scheint. Die Leute glotzen sowieso: "Dann kann ich auch genauso gut Geld dafür nehmen."

Doch es geht nicht nur um Zacharys Geschichte. Kimberly Willis Holt hat auch ein Buch über Freundschaft geschrieben, über die erste Liebe und über das Zusammenleben in der Familie. Tragisch und leicht zugleich. Der Leser begegnet dem Ich-Erzähler Toby in einem Moment, da alles ins Wanken gerät: seine Mutter macht sich auf und davon, um eine Karriere als Country-Sängerin zu starten, sein Vater zieht sich wie so oft hinter eine Mauer des Schweigens zurück, Scarlett, das Mädchen seiner Träume, sagt ihm zwar, er sei der netteste Junge der Stadt, doch dann küsst sie einen anderen.

Als Cals Bruder - er ist genau die Art großer Bruder, wie das Einzelkind Toby selber gerne einen hätte - in Vietnam stirbt, weiß Toby nicht, was er tun soll. Er würde sich am liebsten verkriechen. Nichts hören und nichts sehen. Tagelang bleibt er in der Wohnung, sperrt den Rest der Welt aus. "Was sagt man, wenn der Bruder des besten Freundes stirbt?" Toby verweigert sich, als Cal ihn am dringendsten braucht. Er weiß, dass das ein Fehler ist, und auch sein Vater lässt ihn das durch sein Schweigen spüren, das noch schwerer ist als gewöhnlich.

"Du bist ein glücklicher Mensch, wenn du in deinem Leben jemanden findest, der dich braucht": Endlich kann der Vater mit seinem Sohn reden. Auch über seine eigene Kindheit und Jugend. Und ganz allmählich gelingt es Toby, seine wilden Gefühle und Gedanken zu ordnen.

Am Ende des Sommers ist nichts mehr wie es einmal war. Wie jeder junge Mensch muss Toby seinen eigenen Weg finden, Eltern und Freunde können ihm dabei nur Hilfestellung geben. "Sommerblues" ist ein bemerkenswertes Buch, das berührt und zum Nachdenken anregt. Ein Buch über das Abschiednehmen von der Kindheit und auch über die Sinnlosigkeit des Krieges. In Vietnam und überall auf der Welt.

Margit Lesemann

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