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Rebecca Opetsi (rechts) mit dem Mädchen Joyce und deren Großmutter.

© Nora Tschepe-Wiesinger

Afrika: Mit Kampfgeist und Optimismus

Rebecca Opetsi aus Nairobi ist von Geburt an behindert. Viele Afrikaner halten das für einen Fluch, deshalb werden Behinderte oft diskriminiert. Doch die 24-Jährige hat sich Anerkennung erkämpft und hilft jetzt anderen Menschen mit Handicap.

Ein Fluch liegt auf Rebecca Opetsi – davon war ihre Grundschullehrerin überzeugt. Deswegen durfte das sechsjährige Mädchen nur aus der hintersten Ecke des Klassenzimmers am Unterricht teilnehmen – weit weg von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. Eigentlich sollte sie gar nicht mehr zur Schule gehen. Zu groß war unter den Schülern und Lehrern die Angst vor einer Infektion; denn dass Rebecca ansteckend ist, bezweifelte niemand. Obwohl es nicht stimmt. Rebecca Opetsi hat weder Mumps oder Masern noch Röteln, sondern Spina bifida, eine angeborene Fehlbildung der knöchernen Wirbelsäule und des Rückenmarks, auch bekannt als „offener Rücken“. Die Behinderung entsteht zwischen der dritten bis vierten Schwangerschaftswoche, wenn sich das Neuralrohr, eine Vorläuferstruktur des Nervensystems, aus dem sich die Wirbelsäule und das Rückenmark entwickeln, nicht vollständig verschließt. Obwohl Rebecca direkt nach der Geburt operiert wurde, hatte sie von klein auf Probleme beim Laufen. Ihr Fuß ist verformt.

Es war kein einfacher Weg für Rebecca

Heute ist Rebecca Opetsi 24 Jahre alt. Spina bifida hat sie immer noch, aber gehänselt oder ausgeschlossen wird sie deswegen nur noch selten. Doch bis hierhin war es ein weiter und kein einfacher Weg. Wenn Rebecca über ihre Grundschulzeit und die damaligen Schikanen spricht, zittert ihre Stimme, aber Tränen erlaubt sie sich nicht. Schwäche zeigen und Selbstmitleid sind Rebecca zuwider, lieber kämpft sie. „Natürlich ist das Leben mit einer Behinderung nicht einfach, aber bei Herausforderungen bemitleide ich mich nicht, sondern finde immer einen Weg, damit umzugehen“, sagt sie und wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Obwohl die Sonne nicht scheint, ist es in Kigamboni, einem Dorf an der Ostküste Tansanias und einem der vielen Arbeitsplätze von Rebecca, unglaublich heiß. Rebecca ist erschöpft. Aufgrund ihrer Behinderung strengen selbst kurze Fußmärsche sie sehr an. Für lange Strecken benötigt sie eigentlich einen Rollstuhl, aber damit zu fahren, ist im ländlichen Tansania, wo die wenigsten Straßen asphaltiert sind, nur schwer möglich. Nach Luft ringend, stützt sie sich auf die Krücke, die sie zum Laufen benötigt.

Mit der Krücke, den engen Jeans und den großen silbernen Ohrringen zieht sie die Blicke der Einheimischen auf sich. Eigentlich kommt Rebecca aus Nairobi, der modernen und sich schnell entwickelnden Hauptstadt Kenias, dem Nachbarland Tansanias. Seit zwei Jahren arbeitet sie jedoch in verschiedenen Dörfern in der Nähe von Daressalam, der größten Stadt Tansanias, und unterstützt und ermutigt dort Kinder, die wie sie eine Behinderung haben.

Die zehnjährige Joyce ist eine von ihnen. Sie leidet an infantiler Zerebralparese, einer psychomotorischen Bewegungsstörung des Körpers, bekannt als spastische Lähmung. Ihre Arme und Beine zucken unkontrolliert und ihr Kopf kippt immer wieder nach vorn. Aber als sie Rebecca erblickt, strahlt sie über das ganze Gesicht. Joyce kann zwar ihre Muskeln nicht kontrolliert bewegen, doch ihre kognitiven Fähigkeiten sind nicht eingeschränkt, sie versteht alles, was um sie herum geschieht. Es ist das erste Mal, dass Rebecca das zehnjährige Mädchen besucht. Joyce wird von ihrer Großmutter versorgt, denn ihre Mutter verkauft tagsüber Gemüse auf dem Markt.

Ihr Vater ist schon lange nicht mehr da. Er hat seine Familie sofort nach Joyce’ Geburt verlassen, mit der festen Überzeugung, dass auf seiner Frau ein Fluch liege, denn eine normale Frau könne kein behindertes Kind zur Welt bringen. So wie Joyce’ Vater denken viele Menschen in Afrika. Behinderte Kinder werden von ihren eigenen Eltern versteckt und verstoßen; oft erhalten sie weder eine ausreichende medizinische Versorgung noch eine Schulausbildung.

Ihre Eltern haben sie immer unterstützt

Bei Rebecca war das anders. „Ich bin unglaublich froh, dass meine Eltern mehr Wissen hatten und sich um mich wie um ein ganz normales Kind gekümmert haben. Sie haben mich immer unterstützt und verteidigt“, sagt sie dankbar und erzählt wieder von ihrer Grundschulzeit. In der 7. Klasse wird sie aufgrund ihrer Behinderung von der Schule verwiesen. Ihre Schulleiterin ist der Meinung, dass man mit einer Behinderung allenfalls einen handwerklichen Beruf erlernen könne. „Mir wurde gesagt, ich solle Schneiderin oder Schuhmacherin werden, denn bis zur Oberschule oder sogar zur Universität würde ich es niemals schaffen.“ Rebeccas Eltern sind über solcherlei Prognosen empört. Sie wenden sich an die kenianische Regierung und schildern dem Bildungsministerium den Fall. Sie haben Erfolg: Zwei Monate später sitzt Rebecca wieder im Klassenzimmer.

Zum Kampf gegen die Schulleitung kommen weitere Herausforderungen: Als Rebecca 14 Jahre alt ist, tritt sie mit ihrem Klumpfuß versehentlich auf einen Nagel. Aufgrund der Spina bifida funktioniert ihr Nervensystem nur eingeschränkt: Schmerzen in den Beinen nimmt sie nicht oder erst verspätet wahr. So steckt der Nagel 24 Stunden unbemerkt in ihrem Fuß, bis sie durch die Entzündung darauf aufmerksam wird. Der Nagel muss operativ entfernt werden. Es wird beschlossen, bei dem chirurgischen Eingriff gleich den Klumpfuß mitzukorrigieren. Die Operation verläuft ohne Komplikationen, doch der behandelnde Arzt legt den Korrekturgips danach viel zu eng an. Die Muskeln in Rebeccas Unterschenkel werden nicht mehr richtig durchblutet, Muskel- und Nervengewebe sterben ab. Die Ärzte sehen als einzigen Ausweg die Amputation des gesamten Fußes samt Unterschenkel. Rebeccas Eltern und Freunde sind entsetzt – sie selbst bleibt ruhig. „Ich war lange nicht so deprimiert wie meine Eltern. Vor der Amputation habe ich den Arzt gefragt, ob ich jemals wieder laufen könne und ob ich ein neues künstliches Bein kriege. Als er beides bejahte, war ich zuversichtlich, auch mit nur einem Bein ein glückliches Leben führen zu können“, erzählt sie rückblickend.

Rebeccas Optimismus und Kampfgeist behalten die Oberhand. Nach nur acht Wochen im Krankenhaus geht sie wieder zur Schule. Später wechselt sie auf ein Internat für körperlich behinderte Jugendliche in Zentralkenia, auf dem sie eine ganz neue Selbstwahrnehmung entwickelt. „In der Grundschule dachte ich immer, meine Behinderung sei die schlimmste der Welt. Aber ab der 9. Klasse bin ich mit Leuten zur Schule gegangen, denen es viel schlechter ging als mir. Manche hatten keine Arme und Hände, mussten mit dem Mund schreiben und ihre Wäsche mit den Füßen waschen“, erinnert sich Rebecca. „Auf einmal war ich diejenige, die alle um Hilfe baten. Irgendwann habe ich mich nicht mehr behindert gefühlt.“ Mit 18 Jahren schließt sie die Oberschule ab und studiert „Internationale Entwicklung“.

Rebeccas Wunsch, anderen Kindern mit einer Behinderung zu helfen, ist auch der Grund, dass sie in Tansania leben will. Tansania hinke Kenia stark hinterher in Bezug auf die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung und deren Rechten, sagt Rebecca.

Jetzt wohnt Rebecca in einer Missionsstation

Sie will das ändern. Daher wohnt sie seit eineinhalb Jahren auf einer christlichen Missionsstation in Mwandege, einem Dorf gut eine Stunde von Daressalam entfernt. Bis zu vier Mal pro Woche fährt sie von dort mit dem Bus in die umliegenden Dörfer, um Kindern wie Joyce und deren Eltern ihre Geschichte zu erzählen und um ihnen Mut zuzusprechen und sie darin zu bestärken, dass man auch mit einer Behinderung ein ganz normales Leben führen und sogar Erfolg haben kann – auch in Afrika. „Alle dachten, dass ich es höchstens bis zur achten Klasse schaffe. Jetzt habe ich sogar einen Universitätsabschluss“, sagt sie und kann sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen.

Bevor Rebecca sich von Joyce verabschiedet, spricht sie noch ein Gebet. Obwohl die Arbeit in Tansania Rebecca erfüllt, möchte sie in die Politik, um sich so noch mehr für die Rechte für Menschen mit Behinderung einzusetzen. In vielen afrikanischen Ländern gebe es zwar schon Gesetze, diese würden aber nur auf dem Papier existieren.

„Ich möchte durch meine Arbeit auf ein besseres Afrika hinwirken, in dem behinderte Menschen endlich als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft angesehen werden.“ Rebeccas Pläne klingen kühn, dennoch glaubt man ihr. Schließlich hat sie in ihrem Leben schon mehr als einmal bewiesen, dass sie Ziele erreichen kann.

Nora Tschepe-Wiesinger

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