zum Hauptinhalt

Panorama: Am anderen Ende des Tunnels Grafschaft Kent ruft Engländer zum Umzug nach Frankreich auf

Die Figur des Pendlers, des „commuters“ ist in England zu einem Klischee geworden. Morgens rein nach London, hinter einer Zeitung, abends raus aus London.

Die Figur des Pendlers, des „commuters“ ist in England zu einem Klischee geworden. Morgens rein nach London, hinter einer Zeitung, abends raus aus London. Jetzt haben die Engländer diese Idee ausgeweitet. Die Grafschaft Kent schickt sich an, mindestens 10 000 Bürger zu überreden, nach Frankreich umzuziehen. Nur zum Wohnen – arbeiten sollen sie weiter in London, und täglich durch den Eurotunnel pendeln.

Zunächst einmal ist dies keine kulturelle Entscheidung, sondern eine ökonomische Rechnung der Grafschaft. In Kent fehlen nämlich 116 000 Wohnungen. Die Vorgabe des Vizepremiers John Prescott, diese Wohnungen bis 2016 zu bauen, bedeutete zum einen eine finanzielle Hiobsbotschaft für die Steuerzahler: Die Londoner „Times“ spricht von 700 Millionen Pfund für 120 neue Schulen, ein Trinkwasserreservoir, Krankenhäuser und den Straßenbau. Ein Ausbau so groß wie ganz Nottingham. Zum anderen bedeute diese Entwicklung eine Gefahr für die Natur, denn Kent gilt als „Garten Englands“. Licht am Ende des Tunnels sehen die Verantwortlichen in Frankreich.

Nur etwa 55 Minuten soll die Zugfahrt von Calais nach London einmal dauern, schwebt den Politikern vor. Die Betreiber des Eurotunnels wollen 2007 die neue Schnellzugstrecke einweihen. Wegen der hohen Auslastung fielen dann die Ticketpreise rasant. Grundsätzlich, argumentieren die Ökonomen, kosteten Grund, Boden und das Haus darauf in Frankreich ohnehin weit weniger. In zehn Jahren könnte es so weit sein. Und ab einer Zahl von 10 000 Pendlern lohnt sich das Ganze auch für die Tunnelfirma. Soweit zu den ökonomischen Eckdaten. Die kulturelle Bedeutung ist noch nicht absehbar.

Erstaunlicherweise ist die britische Presse, die immer noch gerne vom „Kontinent“ spricht, wenn sie Europa meint, weit entfernt von einem Aufschrei. Liegt das daran, dass sie den lockenden Worten des Vorsitzenden im Regionalparlament von Kent, Sir Sandy Bruce-Lockhart, erlegen ist? Leben wie Gott in Frankreich, hatte der in Aussicht gestellt. Und es ist klar, an was er wohl dachte: an das Frankreich der Urlauber. Provencalische Lavendelsäckchen für die Wäsche. Immer einen guten Wein im Keller – die meisten englischen Häuser haben gar keinen Keller. Und Engländer, denen das Umsiedeln so schmackhaft wurde, essen fortan frisches Weißbrot statt englischen Toast. Frankreich als Lebensart also.

Vielleicht haben die Verantwortlichen vergessen, dass Gott in Frankreich sich wohl niemals um Calais herum niederlassen würde. Es handelt sich nämlich nicht gerade um eine Vorzeigeecke des Landes. Die strukturschwache Region kennen die meisten nur aus dem Transit. Die Engländer, die jetzt ab und zu mal herübertunneln, tun das der Supermärkte wie „Carrefour“ wegen. Dort kaufen sie Senf, Käse und Pasteten. Aber würden Tausende Engländer freiwillig für den Rest ihres Lebens kontinental frühstücken?

Und allein der Martini, traditionell gemischt aus englischem Gin und französichem Wermut! Überzeugte Engländer, heißt es, lassen nur den Schatten der französischen Wermutflasche über das Glas fallen. Dann hängen sie eine Olive in den Gin.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false