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Bruder betreut Schwester. Wenn der Altersunterschied zwischen Geschwistern größer ist, übernehmen ältere Kinder eher Fürsorgepflichten. Sehr junge Eltern bringen oft schnell hintereinander ihre Kinder auf die Welt. Foto: Caro/ Aufschlager

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Panorama: Auf Abstand

Deutsche Eltern lassen sich Zeit: Das erste Kind bekommt durchschnittlich erst im Alter von vier Jahren ein Geschwisterchen.

Mit dem zweiten und dritten Kind lassen sich die Eltern in Deutschland meist einige Jahre Zeit. Zwischen den Erstgeborenen und den 2010 geborenen zweiten Kindern lagen im Durchschnitt vier Jahre. Das dritte Kind kam im Schnitt fünf Jahre nach dem Zweitgeborenen zur Welt. Die Zahlen, die das Statistische Bundesamt am Freitag bekannt gab, verraten damit viel über das Aufwachsen im sogenannten Schoß der Familie: Wenn die Neugeborenen dort Geschwister haben, dann sind diese in den meisten Fällen schon im Kindergartenalter, oft auch schon in der Schule. Nur 45 Prozent der zweiten und nur etwas mehr als ein Drittel der dritten Kinder finden zu Hause einen Spielkameraden vor, der jünger als drei Jahre alt ist.

Was sich in den vergangenen Jahrzehnten aber vor allem drastisch geändert hat, ist das Alter der Frauen bei ihrer ersten Entbindung. In den alten Bundesländern ist es seit den 60er Jahren um fünf Jahre gestiegen, in den neuen zeigte sich ein fast ebenso hoher Anstieg innerhalb der zwei Jahrzehnte seit der Wende. Heute liegt es bei 29,2 Jahren. Frauen, die später mit dem Kinderkriegen beginnen, lassen sich, wie die neuen Daten zeigen, danach kaum weniger Zeit, bis sie dem ersten Kind ein Geschwisterchen schenken – „biologische Uhr“ hin oder her.

Für den Entwicklungspsychologen Hartmut Kasten von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, der seit Jahrzehnten zu Geschwisterbeziehungen forscht, ist das keine Überraschung: „Paare, die ihre Kinder relativ früh bekommen, sind in der Regel daran interessiert, die Kleinen möglichst schnell groß zu haben, weil sie viele Pläne auf diese Zeit verschieben. Also ist der Altersabstand zwischen den Kindern oft geringer.“ Zudem ist bei Frauen, die das zweite oder dritte Kind mit über 40 bekommen, die Wahrscheinlichkeit größer, dass ihr erstes aus einer früheren, schon länger zurückliegenden Beziehung stammt – auch das sorgt für längere Abstände in der (Halb-)Geschwisterfolge.

Doch was ist aus psychologischer Sicht am besten für die Kinder selbst? „Drei Jahre sind eigentlich der ideale Abstand“, meint Kasten. „Dann hat sich die symbiotisch-enge Beziehung des älteren Kindes zu seinen Eltern schon etwas gelockert, es reagiert gelassener auf sein Brüderchen oder Schwesterchen.“ Andere Konstellationen, wie das Leben sie ergibt, möchte der Geschwisterforscher damit allerdings keineswegs negativ bewerten. Allgemein gelte: Enger Altersabstand zu den Geschwistern zusammen mit gleichem Geschlecht erzeugt besonders große Nähe, aber auch viel Konkurrenz. Großer Abstand und ungleiches Geschlecht bedeutet dagegen oft: Die Geschwister sind sich nicht so vertraut, sie haben eher eine Eltern-Kind-Beziehung, sie gehen möglicherweise aber auch entspannter miteinander um.

Und die Einzelkinder? 30 Prozent der deutschen Mütter zwischen 35 und 64 Jahren haben heute ein Kind, die meisten von ihnen werden kein weiteres mehr bekommen. „Doch Eltern mit einem Kind wissen heute meist, worauf es ankommt und sorgen dafür, dass es guten Kontakt zu anderen Heranwachsenden bekommt“, versichert Kasten. In solchen nichtverwandtschaftlichen Beziehungen zu mehr oder weniger Gleichaltrigen erweisen sich Kinder, die keine Geschwister haben, zudem als die sorgsameren Freunde, wie Studien gezeigt haben.

Mag sein, dass Freundschaften, aber auch Beziehungen zu Cousinen und Cousins für sie bedeutsamer sind, weil ihnen Vertreter der eigenen Generation in der engeren Familie fehlen. Im späteren Leben macht sich das dann aber manchmal bemerkbar. „Wenn diese horizontale Ebene vorhanden ist, ist in Krisenzeiten der Schulterschluss möglich, dann kann Einigkeit stark machen“, sagt Kasten. Stärker macht es auch, wenn später die Sorge um körperlich und geistig gebrechliche alte Eltern sich auf mehrere Schultern verteilt. „In Ländern mit großem Kinderreichtum sehen wir zudem noch heute, wie Geschwister sich gegenseitig betreuen, aber auch bei uns fungieren sie als Sozialisationsinstanz“, sagt der Entwicklungspsychologe.

Dass Familienpolitik selbst im Hinblick auf die Abstände zwischen Geschwisterkindern Wirkung zeigen kann, beweist das Beispiel Schweden. Wie der Bevölkerungswissenschaftler Jan Hoem vom Rostocker Zentrum für Demografischen Wandel auf der Homepage seines Instituts darlegt, hat in dem skandinavischen Land seit Beginn der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine Art „Geschwindigkeitsprämie“ Paare zu kürzeren Intervallen zwischen den Geburten ihrer Kinder motiviert: Die Höhe des ausgezahlten Elterngelds wurde ab diesem Zeitpunkt an das Gehalt vor der Geburt des vorhergehenden Kindes geknüpft – falls zwischen beiden Geburten nicht mehr als 30 Monate vergangen sind. Dann gereicht es den Eltern beim Erziehungsurlaub nicht zum Nachteil, wenn sie wegen des älteren Geschwisterkindes nur in Teilzeit arbeiten.

Geschwister haben die Leute doch sowieso – das stimmt längst nicht mehr. „Der kollektive Verlust von Geschwistern bedeutet letztlich das Ende einer Kultur“, schreibt der Berliner Psychoanalytiker Horst Petri in seinem Buch „Geschwister – Liebe und Rivalität“. Doch offensichtlich wollen gerade Jugendliche und junge Erwachsene diese Kultur erhalten. In Befragungen äußern sie seit Jahrzehnten unverändert ein und denselben Zukunftsplan: Sie möchten eine Familie mit zwei bis drei Kindern gründen. Erst später kommen die Hürden, die das Leben oft einen anderen Verlauf nehmen lassen.

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