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Der Tsunami verwüstet den Küstenstreifen in der nordöstlichen Provinz Miyagi. Bis zu fünf Kilometer rollte die Flutwelle ins Land.

© Reuters

Augenzeugenberichte: Das Beben eines Tages

Es ist wie ein Schwindel, als die Erde in Tokio zu vibrieren beginnt. Die Leute stürzen ins Freie. So heftig hat der Boden hier noch nie gerüttelt. Doch die Katastrophe bleibt in der Hauptstadt aus, sie findet im Norden statt.

Ein strahlend schöner Tag, eine Stadt im hellen Sonnenlicht des beginnenden Frühlings. Von den oberen Stockwerken der Wolkenkratzer ist in der Ferne der Fujiyama zu ahnen. Unten auf den Straßen herrscht das übliche Gewimmel von Menschen, Tokio, die größte Metropole der Welt im alltäglichen Arbeitsfieber.

Und dann geschieht es. Es ist 14 Uhr 46. Und noch ist niemandem klar, was da eigentlich geschieht. Wie ein plötzlicher Schwindelanfall fühlt es sich an und will gar nicht mehr aufhören. Bis man endlich begreift: Die Erde bebt. Erst langsam, dann immer schneller und heftiger.

Menschen hasten aus den Häusern, rennen ins Freie, verlassen überstürzt die U-Bahn-Schächte. Laufen wie Verirrte hin und her, wissen nicht, wohin. Die Straßen sind voll von Fußgängern und Autos, die nicht mehr vorwärts und zurück können. Vor den Taxiständen bilden sich lange Schlangen, aber längst gibt es keine verfügbaren Taxen mehr. Verzweifelt versuchen die Menschen, ihre Angehörigen zu erreichen. Aber das Handynetz ist zusammengebrochen. Und daran wird sich auch in den nächsten Stunden nichts ändern.

Und es bleibt nicht bei dem einen großen Erdstoß. Fast im Zehn-Minuten-Takt wird der Boden durch Nachbeben erschüttert. Die Stöße sind so heftig, dass die Tokioter das Schwingen der Hochhäuser mit bloßem Auge erkennen können.

Die es nicht auf die Straße schafften, warfen sich in den Gebäuden auf den Boden. „Wir haben uns alle hingehockt und voller Angst nach oben geguckt, ob die Decke einstürzt“, erzählt einer noch immer geschockt. „Wir hatten Todesangst.“

Auch in den Hochhäusern kam es zu Schäden. Fahrstühle stoppten. In Treppenhäusern rieselten Farbe und Mörtel herab. Und im Presseklub der Auslandskorrespondenten riss es Bücherregale aus der Wand. Die Stühle rutschten hin und her, Menschen wurden von den Beinen gerissen. „Das war das stärkste Beben, das ich je erlebt habe“, sagt der 65-jährige Geschäftsführer des Presseklubs.

Einen anderen überraschte das Beben beim Einkaufen in einem Supermarkt. „Ich habe mir einen Einkaufskorb als improvisierten Helm auf den Kopf gesetzt“, berichtet er, „und bin unter den Kassentisch gekrochen.“ Erstaunlicherweise sei in dem Geschäft aber keineswegs Panik ausgebrochen. Die Angestellten seien beeindruckend ruhig geblieben und hätten die Menschen dann ganz geordnet nach draußen geleitet.

Auch in den wenigen Bussen, die noch verkehren, bricht keine Hysterie aus, als das erste Nachbeben beginnt. Die Menschen sind stumm, gleichzeitig gelähmt und unruhig. Alle sind um Fassung und Ordnung bemüht. Es wird nicht gerempelt, geschubst und gemeckert.

Diese Erfahrung konnte man in Tokio an vielen Stellen machen. Die Menschen reagierten bei aller Angst mit relativer Gelassenheit und Ruhe. Die Regierung richtete innerhalb von Minuten einen Krisenstab ein. Der Gouverneur der Präfektur Miyagi forderte die Hilfe der Selbstverteidigungsstreitkräfte ein. Evakuierungsmaßnahmen liefen sehr geordnet ab. Schnell füllten sich die Notfallzentren. Die Menschen sind realistisch: „Gegen Erdbeben kann man nichts machen, sondern nur hoffen, nicht da zu sein, wenn es geschieht“, sagt eine Frau. In richtig großer Not spulen sie das seit dem Kindergarten einstudierte Programm ab. Schutz suchen. Abwarten. In Sicherheit bringen. Die Zahl der Toten dürfte daher, auch wenn sie groß ist, nicht wie in anderen Ländern bei einer Katastrophe diesen Ausmaßes in die Zehntausende steigen.

Denn Japan ist routiniert im Umgang mit Beben. Es ist das erdbebenreichste Land der Welt, da unter den Inseln mehrere Erdplatten zusammenstoßen. Täglich wackelt es irgendwo im Land. Rund 40 aktive Vulkan verstärken das Bedrohungsgefühl. Die Häuser sind daher so erdbebensicher wie nirgendwo sonst auf der Welt. Außerdem werden bestehende Gebäude verstärkt. Der denkmalgeschützte Tokioter Bahnhof ist auf seiner gesamten Länge von über 300 Metern nachträglich auf Puffer aus Stahl und Gummi gestellt worden, um auch Beben der Stärke 8 schadlos zu überstehen. Eine technische Meisterleistung.

Eines ist den Tokiotern und der Nation dennoch bewusst geworden. Das Land hat noch Glück im Unglück gehabt. 400 Kilometer liegt das Epizentrum von der Hauptstadt entfernt, weit draußen im Ozean. Die Flutwelle im Norden vor der Millionenstadt Sendai könnte mehr als Tausend Menschen das Leben gekostet haben, als sie über die flache Küste ins Landesinnere rollte und Dörfer, Siedlungen und Farmen wegschwemmte. Ein Zug verschwand in den rasenden Wassern, auch ein Schiff mit hundert Personen an Bord wird vermisst. Videoaufnahmen zeigen eine meterhohe Ozeanwalze, die sich in die Innenstädte von Natori, Kesennuma, Yamada, Oarai und Hachinohe ergoss. Vielerorts hatten sich die Menschen seit langem auf das Beben der Beben vorbereitet, nun blieb ihnen oftmals nur eine Vorwarnzeit von wenigen Minuten.

Nicht auszudenken, wenn das heutige Beben den Großraum Tokio mit seinen 36 Millionen Einwohnern getroffen hätte. 1923 starben beim großen Kanto-Erdbeben mehr als 100 000 Menschen. Ein anderes Beben der Stärke 7,3 auf der Richterskala in der Region um Kobe kostete 1995 mehr als 6000 Leben. Was passieren würde, wenn ein Beben der Stärke 8 Tokio träfe, vermag sich niemand vorzustellen. Es wären wohl Hunderttausende von Toten.

Am Abend hat der Alltag in Tokio bereits wieder begonnen. Seit 20 Uhr 50 fahren die ersten Bahnen wieder. Die Bewohner bauen die umgestürzten Regale wieder auf und fegen die Scherben zusammen. Ganz ohne Sorge sind sie indessen doch nicht. „Wir haben eine Nottasche gepackt“, sagt einer, „und werden mit dem Fahrradhelm schlafen gehen. Falls wir schlafen können.“

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