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Panorama: Aus dem Schatten

Freundlich und hölzern sei er, sagen die einen. Andere nennen ihn hochgefährlich. Nun hat er auf Kuba die Macht: Raúl Castro Ruz

April 2003. Mit Bekannten haben wir uns auf den Weg nach Trinidad gemacht. Wir wollen ihnen das koloniale Städtchen und seine Umgebung zeigen. Leider bekommen wir wegen der Osterreisesaison keine Zimmer in dem am Meer gelegenen Hotel Trinidad del Mar – Las Brisas. Wir weichen auf das oberhalb der Stadt gelegene Hotel Las Cuevas (Die Höhlen) aus. Von hier aus hat man einen guten Blick auf das etwa zehn Kilometer entfernte Meer.

Da unser Besuch noch schläft, gehe ich vor dem Frühstück allein auf einen Erkundungsgang. Ich sehe einen, später einen zweiten Militärlastwagen etwa 300 Meter unterhalb des Hotels. Soldaten laden Kisten und andere Gegenstände aus und stellen sie ab. Der Vorgang erweckt meine Neugier. Da ein Feldweg in die Oberstadt von Trinidad bei den Soldaten vorbeiführt, gehe ich den Weg ein Stück entlang und bemerke, dass die Lastwagen vor dem Eingang zu einer unterirdischen Höhle geparkt haben. Das abgeladene Gerät wird dort hineingebracht.

Schon öfter hatte ich gehört, dass die Militärs in Kuba über ein groß angelegtes System von Tunneln und unterirdischen Verstecken verfügen. In ihnen sollen Panzer, Artilleriegeschütze und schwere Waffen aller Art gelagert sein. Auf diese Weise wolle sich Kuba für eine mögliche bewaffnete Auseinandersetzung rüsten.

Mir wurde klar, dass sich oberhalb von Trinidad in den Cuevas ein solches Versteck befand. Bei den Kisten und den anderen ausgeladenen Gegenständen handelte es sich vermutlich um Munition und leichte Waffen, die hier in Sicherheit gebracht werden sollten. Jetzt, nach dem raschen Ende des US-Feldzuges im Irak, sprach Fidel Castro davon, dass Kuba an der Reihe sei. Er bereitete, zusammen mit seinem Bruder Raúl, das Land auf die militärische Auseinandersetzung mit den USA vor. Nach Schätzung militärischer Experten bestanden die kubanischen Streitkräfte am Beginn des 21. Jahrhunderts aus 50 000 bis 60 000 regulären Soldaten und über einer Million Milizen zur Territorialverteidigung, die innerhalb weniger Stunden mobilisiert werden konnten. Ihrer Schaffung im Jahre 1980 lag das Konzept des „Krieges des ganzen Volkes“ zugrunde, der auch in anderen sozialistischen Staaten, besonders in China und Vietnam, entwickelten Guerilla-Strategie im Falle eines bewaffneten Konflikts.

Raúl Castro war als Verteidigungsminister der Chef der Truppen. Er, der jüngste der drei Castro-Brüder, hat seine Macht seit dem Triumph der Revolution beständig ausbauen können. Er ist Erster Vizepräsident und Stellvertreter Castros im ZK und im Politbüro. Gemäß Artikel 94 der kubanischen Verfassung ist der Erste Vizepräsident im Falle des Todes oder der Verhinderung des Präsidenten dessen Nachfolger.

Leider ist es weder mir noch anderen meiner Kollegen gelungen, mit Raúl Castro ein Gespräch zu führen. Alle meine Versuche blieben vergeblich. Ich habe ihn zwar öfter auf Versammlungen erlebt, meist in der Nähe von Fidel, aber nie ist ein persönlicher Kontakt entstanden. Einige Ausländer, die ihn kennen, schildern ihn als freundlichen und verbindlichen Gesprächspartner, allerdings mit wenig persönlicher Ausstrahlung. Er sei und verhalte sich immer noch wie der kleinere Bruder, der nicht aus dem Schatten des älteren heraustrete. Andere halten ihn für doppelgesichtig, hinterhältig, intrigant und hochgefährlich. Sie berichten auch von schweren Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern. Die Gerüchte, Raúl sei krank und alkoholabhängig, sind während meiner ganzen Amtszeit in Kuba nicht verstummt.

Die Machtbasis von Raúl ist die Armee. Diese Basis hat er dadurch ausgebaut, dass ihr Aufgaben zugewiesen wurden, die normalerweise durch ziviles Personal ausgeübt werden. Heute sind wichtige Teile des Tourismus, des einkommensstärksten Sektors, in der Hand der Militärs. Militärs stehen auch an der Spitze des Innenministeriums, des Zuckerministeriums, des Gesundheitsministeriums, des Ministeriums für Hochschulerziehung, an der Spitze der Zivilluftfahrtbehörde, des Hafens von Havanna und anderer wichtiger Institutionen.

Die Militärs selbst verfügen über hundert mittlerer und kleinerer Betriebe, in denen fast alles hergestellt wird, was Soldaten benötigen, von der Uniform bis zum Gewehr. Als sich Mitte der 80er Jahre die allmähliche Verschlechterung der Beziehungen Kubas zur UdSSR und ihren Satelliten abzeichnete, begann Raúl in den Betrieben der Streitkräfte an westliche Vorbilder angelehnte Managementmethoden zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit einzuführen, das Sistema de Perfeccionamiento Empresarial.

Dieses System trug dazu bei, die schwere und lebensgefährliche Krise, in die Kuba nach dem Zusammenbruch der UdSSR geraten war, abzufedern. Es wurde Ende der 90er Jahre auch auf die übrige staatliche Industrie und den Handel ausgedehnt.

Raúl entdeckte aber auch die Landwirtschaft. Auf seine Initiative sollte die Armee Musterbetriebe schaffen, in denen junge Soldaten nicht nur den Anbau und die Ernte von Nutzpflanzen, sondern auch moderne Methoden der Betriebsführung und des Warenabsatzes kennen lernten. Es entstand das jugendliche Arbeitsheer Ejercito Juvenil de Trabajo (EJT) mit einem alten Dreisterne-General an der Spitze.

Während einer Einladung auf einen vom EJT geführten Betrieb in der Nähe von Havanna bekam ich einen recht genauen Einblick in die Arbeit dieser Einheiten. Ihre Musterbetriebe sind modern ausgestattet und machen einen hervorragenden Eindruck. Man möchte sich wünschen, die gesamte kubanische Landwirtschaft werde so geführt. Aber leider sind die EJT-Betriebe wie Inseln in einem Meer aus Schlendrian und Mangel, bei dem es in der Produktion immer mehr bergab geht.

Wer ist nun dieser Mann, der den Militärs in Kuba eine neue Rolle in der Landwirtschaft zugewiesen hat, wer ist Raúl Castro Ruz?

Während es über Fidel zahlreiche Bücher gibt, kenne ich keines, das ausschließlich Raúl gewidmet wäre. Das liegt an verschiedenen Faktoren. Raúl hat stets im Schatten seines älteren Bruders gestanden. Als Fidel nach Havanna ging, um an einem Jesuitenkolleg sein Abitur zu machen, folgte ihm der sechs Jahre jüngere Bruder nach. Raúl war auch maßgeblich an dem gescheiterten Überfall auf die Moncada-Kaserne im Juli 1953 beteiligt. Er teilte mit Fidel das Gefängnis auf der Isla de Pinos (heute: Isla de la Juventud südlich von Havanna). Raúl folgte Fidel ins Exil nach Mexiko und nahm an der Landung der „Granma“ (einer Motorjacht, mit der Fidel Castro und rund 90 Guerilleros im Jahre 1956 Kuba erreichten), sowie an den (nachfolgenden) Kämpfen in der Sierra Maestra teil. Er wurde Comandante de la Revolución und errichtete 1958 die zweite Front in der Sierra de Cristal im Osten Kubas.

Raúl heiratete eine der wenigen prominenten Frauen in der Rebellenarmee, Vilma Espín, die heute Vorsitzende des kubanischen Frauenverbandes ist. Raúl und Vilma gelten als militante Kommunisten. Als ich ihr 2001 in der chinesischen Botschaft vorgestellt wurde, interessierte sie nur die Frage, aus welchem Teil Deutschlands ich stamme. Als ich ihr sagte, ich sei in der Nähe von Brandenburg an der Havel geboren, antwortete sie mir, das sei gut.

Mancher behauptet, Raúl habe sich von Vilma Espín getrennt, sei aus der gemeinsamen Wohnung in Miramar ausgezogen und lebe, ähnlich wie sein Bruder, in einer größeren Finca in Atabay im Westen Havannas. Tatsächlich habe ich es seit Ende 2003 mehrfach erlebt, dass der Verteidigungsminister morgens gegen acht Uhr in einem Wagen russischer Bauart und mit einer Eskorte an uns vorbeifuhr. Er kam über die Quinta Avenida, und dies spricht dafür, dass er in ihrer Nähe übernachtet hat, denn die schnellste Verbindung von Atabay zum Verteidigungsministerium führt über die Quinta Avenida.

Von Raúl heißt es, er habe sich bereits als Jugendlicher den Kommunisten angeschlossen und gemeinsam mit Che Guevara, der seine Ideologie weitgehend teilte, den Übergang Kubas zum Marxismus vorbereitet. Er sei ein eiserner, ganz unbeugsamer Dogmatiker. Raúl galt, solange die Sowjetunion existierte, als der „Liebling“ Moskaus. Bei seinen Reisen, die er in die UdSSR unternahm, wurde er stets hochrangig empfangen.

Nach meinen Beobachtungen ist Raúl ein Mann, der im kubanischen Machtgefüge die Fäden eher im Stillen und hinter den Kulissen zusammenführt. Dabei schreckt er auch nicht vor härtesten Mitteln zurück. Mit der Liquidierung des populären, wohl auch mit Fidel Castro befreundeten Generals Arnaldo Ochoa im Juli 1989 schaffte er sich einen gefährlichen Rivalen vom Hals.

Ochoa sollte das Oberkommando der kubanischen Streitkräfte im Westteil der Insel übertragen werden und damit in eine Spitzenposition innerhalb der Militärs aufrücken. Er, der „Held von Angola“, hatte zahlreiche Anhänger in der Truppe und im Volk. Als Jugendlicher war er zu den Rebellen in der Sierra Maestra gestoßen und hatte seitdem an allen wichtigen militärischen Operationen Kubas, darunter den Kämpfen in der Schweinebucht, teilgenommen. Fidel ernannte ihn in schwieriger Zeit zum Oberkommandierenden der kubanischen Truppen in Angola, um die dortige Revolutionsregierung zu unterstützen und den Fall der Hauptstadt Luanda zu verhindern.

Der erfolgreich in Afrika operierende Ochoa hatte es mehrfach gewagt, eigene Ansichten gegenüber dem strategischen Kommando in Havanna zu äußern und durchzusetzen. Den Streitkräften verschaffte er durch kommerzielle Aktivitäten wichtige zusätzliche Einnahmen. Der beliebte General wurde für Fidel und Raúl gefährlich, als er Sympathien für die Reformen in den kommunistischen Staaten Osteuropas zeigte und dafür Unterstützung bei jüngeren Offizieren erhielt. Es heißt, Ochoa habe die Perestroika von Gorbatschow gelobt und die „Sklerose“ des eigenen Systems kritisiert.

Unter dem Vorwurf des Hochverrats, der Verstrickung in den internationalen Drogenhandel, illegaler Geschäfte und der Korruption wurde dem 49-jährigen General ein Schauprozess gemacht.

Ochoa und drei weitere hohe Offiziere wurden dabei zum Tode verurteilt und durch ein Erschießungskommando sofort hingerichtet. Raúl Castro soll im Hintergrund die Regie geführt haben.

Raúl ist kein Charismatiker. Er wirkt bei seinen Auftritten eher hölzern und trocken. Es gelingt ihm nicht, wie Fidel, seine Zuhörer mitzureißen. Daher tritt er auch erheblich weniger in der Öffentlichkeit auf und überlässt die Leitung wichtiger Veranstaltungen oder den Empfang bedeutender ausländischer Besucher oft seinen Stellvertretern.

So fiel mir auf, dass Raúl sich fast das ganze Jahr 2003 hindurch vertreten ließ und kaum sichtbar wurde. Erst im Herbst meldete er sich zurück. Sein Wiedererscheinen fiel mit dem Bekanntwerden eines Korruptionsskandals im größten (staatlichen) Tourismusunternehmen Cubanacán zusammen. Der Generaldirektor und die gesamte Führung des Unternehmens wurden „beurlaubt“. Nur wenige Wochen später, im Januar 2004, wurde der Tourismusminister abgesetzt und durch den Chef von Gaviota ersetzt, dem den Militärs gehörenden, gut funktionierenden Tourismusunternehmen, dem Raúl als oberster Chef vorsteht.

Für mich wurde dadurch sichtbar, dass Raúl den offenbar schon länger im Hintergrund geführten Machtkampf in der Riege hinter Fidel endgültig für sich entscheiden wollte.

Im Juni 2004 erfuhr ich von einer Videoaufzeichnung, die Raúl während einer Sitzung des Verwaltungsrates des Tourismusministeriums gezeigt hatte. Aus dem immer noch geheim gehaltenen Video soll sich ergeben, dass Raúl selbst die Kontrolle über den Tourismussektor und andere wichtige Wirtschaftszweige in die Hand genommen habe.

Dazu passt, dass im Mai 2004 der Gesundheitsminister entlassen und durch einen Hardliner ersetzt wurde, der einst mit den Rebellen in der Sierra Maestra gekämpft hatte und zuletzt einen führenden Posten im ZK und im Politbüro bekleidete. Es war ein Mann des engsten Vertrauens von Fidel und Raúl.

Danach ging Raúl an den ebenso wichtigen Gesundheitsbereich, den er ebenfalls mit einem seiner Leute besetzen ließ.

Seinen wohl größten Auftritt hatte der Verteidigungsminister im Dezember 2004, als er die militärische Großübung Bastión 04 eröffnete. Mit einem gigantischen Aufmarsch sollte der Welt, vor allem aber den USA, vor Augen geführt werden, dass Kuba bereit sei, jeden Angreifer in die Flucht zu schlagen. Weit über eine Million Menschen wurden mobilisiert. Raúl stand über eine Woche im Rampenlicht.

Dies geschah in einer Zeit, zu der Fidel durch einen Unfall im Herbst 2004 angeschlagen war. Der Comandante war während einer Kundgebung in Santa Clara auf der Treppe gestürzt und hatte sich Brüche am Knie und am Arm zugezogen. Er war danach für viele Wochen nicht mehr einsatzfähig. Sein jüngerer Bruder führte weitgehend die Amtsgeschäfte, empfing wichtige Besucher wie den chinesischen Staatspräsidenten oder den Ministerpräsidenten von Malaysia. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht über den Ersten Vizepräsidenten berichtet wurde.

Bei aller überstarken Präsenz von Fidel Castro kennt Kuba keinen ganz so penetranten Personenkult wie es ihn in der UdSSR unter Stalin, in China zur Zeit Mao Tse-tungs oder in Albanien bei Enver Hodscha und bis heute in Nordkorea gibt. Die Fotos von Fidel oder Raúl in Amtsstuben oder öffentlichen Gebäuden sind eher unauffällig platziert. Gelegentlich tritt einem Fidel Castro am Straßenrand im Kampfanzug der Rebellen entgegen, aber ohne Namen, denn jedermann erkennt ihn sogleich. So auch als der vom Panzer springende Brillenträger im Kampf um die Schweinebucht oder als Guerillero mit Tornister und umgehängtem Gewehr.

Als wir bei einem Ausflug an das östliche Ende Kubas das Landgut der Familie Castro besuchen wollen, wo die Brüder einst aufgewachsen sind, müssen wir lange suchen und mehrfach nach dem genauen Weg fragen. Kein Hinweisschild führt dorthin. Immerhin ist ein Soldat am Eingang der Finca postiert. Er bittet uns, einen Moment zu warten. Ein Herr in Zivil im gestreiften Hemd kommt auf uns zu. Er ist der Verwalter des Anwesens und erklärt sich bereit, uns zu führen.

So erfahren wir, dass Angel Castro, der Vater, als Soldat der spanischen Armee gegen Aufständische kämpfte und nach der Unabhängigkeit Kubas zunächst wieder in seine Heimat Galizien zurückkehrte. Aber Kuba schien ihn so beeindruckt zu haben, dass er schon wenige Jahre später erneut auf die Karibikinsel aufbrach, um sich zunächst in einer Zuckerfabrik als Angestellter zu verdingen.

Sein Aufstieg begann mit dem Kauf von Ländereien und dem Anbau von Zuckerrohr. Er richtete ein Hotel, eine Telegrafenstation, eine Metzgerei und Bäckerei und andere Handwerksbetriebe ein, die nicht nur den Durchreisenden, sondern auch der Bevölkerung der umliegenden Dörfer zugute kamen. Angel Castro verdiente gut und wurde ein reicher Mann. Sein hübsches Wohnhaus, die Hahnenkampfarena und die kleine Schule legen heute noch Zeugnis von diesem Reichtum ab.

In diesem Ambiente sind die Brüder Castro, Ramón, Fidel und Raúl, groß geworden. Sie haben hautnah den eigenen Reichtum und die Armut der kleinen Bauern in der Umgebung erlebt. Hier dürfte die Wurzel für den Entschluss Fidels liegen, die sozialen Strukturen Kubas zu verändern. Auffallend sind bei dem Besuch im Wohnhaus der Castros die Gottesfurcht und die Heiligenverehrung. Die Mutter ist offenbar eine fromme Frau gewesen, die sich bemühte, ihren Glauben auf die Söhne und Töchter zu übertragen.

Der Führer bestätigt uns, dass nur wenige Besucher hierher kämen. Dies finden wir erstaunlich. Einmal ist die Landschaft hübsch, zum anderen ist dieses Anwesen hoch interessant. Aber der Staat macht keine Reklame dafür.

Der Autor, Bernd Wulffen, war in den Jahren 2001 bis 2005 deutscher Botschafter in Havanna. Der Text ist ein gekürzter Auszug aus seinem Buch „Eiszeit in den Tropen. Botschafter bei Fidel Castro“, soeben erschienen im Ch. Links Verlag (320 Seiten, 68 Abbildungen, 19,90 Euro).

Bernd Wulffen

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